Joe Marson steht mit seiner selbstgebauten E-Gitarre zwischen zwei mannshohen Boxen. Der Soul-Sänger aus Los Angeles hat sein kinnlanges, feuerrotes Haar nur notdürftig mit einem blauen Bandana gebändigt. Wild und entschlossen blickt er ins Publikum und beginnt mit seinen kräftigen Händen zärtlich die ersten Akkorde zu zupfen.
So weit, so alltäglich. Würde Marson auf einer normalen Bühne auftreten. Doch heute singt der US-Amerikaner in Socken auf ein paar bunten Fransenteppichen in einem kleinen, hell erleuchteten Zimmer.
In Passaus äußerstem Westen, unterhalb des Klosters Hamberg, schon außerhalb Deutschlands, läuft Lilly Distler in ihrer WG-Küche umher. Im Zimmer der sympathischen Studentin soll in einer Stunde ein Konzert stattfinden. Anstelle ihres Bettes stehen auf den knapp 30 Quadratmetern zwei riesige Boxen und ein ganzes Arsenal an Ton- und Kameratechnik.
Drei Künstler sind für den Abend eingeladen, sie spielen je fünf Lieder. Musik im Wohnzimmer lautet das Motto, Kunst im kleinen Kreis, zum Anfassen: Der Traum eines jeden Musikliebhabers, der Albtraum aller empfindlichen Nachbarn.
Über die Organisation Sofar Sounds ist die Veranstaltung entstanden. Eine Institution, die Lilly während ihres Auslandaufenthaltes in London kennenlernte. „Man bekommt bei Konzerten wenig mit, wenn so zwei Meter große Typen vor einem stehen!“ erklärt die 20-Jährige und lacht. Sofar Sounds, das 2009 von zwei Großkonzert-müden Londonern gegründet wurde, sei während ihres Aufenthalts von einer monatlichen zu einer wöchentlichen Geschichte geworden. „Sogar meine Eltern habe ich dahin mitgeschleppt!“ beschreibt Lilly ihre enge Beziehung zu den Konzerten.
In der britischen Hauptstadt sei das Angebot riesig, oft gebe es mehrere Konzerte an einem Abend. Das Besondere: Die Auftritte finden immer in unterschiedlichen Privatwohnungen statt.
Drei bärtige langhaarige Gitarristen
Nach einem Jahr an der Themse wurde für Lilly aus London Passau. Eine Stadt ohne die gemütlichen Wohnzimmerkonzerte. Also belegte Lilly ein Training bei Sofar Sounds, etablierte Passau als Standort, stellte ein Team zusammen und schon stehen drei Sänger in ihrem Zimmer. Alle drei langhaarig, alle drei bärtig, alle drei auf Socken.
Noch sind es zehn Minuten bis zum Auftritt: Der Soundcheck ist bestanden, die Technik funktioniert, das Buffet lässt keine Wünsche offen, die Fotografen knipsen fleißig, sogar die Künstler waren pünktlich- Alles läuft nach Plan. Aber trotzdem pendelt Lilly nervös zwischen Küche und ihrem Zimmer umher. Sie sorgt sich um dessen Größe. „Ich hoffe da passen 40 Leute rein.“
Als erster der drei langhaarigen Gitarristen spielt Hanno: Der Passauer trägt zu seiner Hornbrille meistens ein breites Grinsen. Auch als er nicht verrät, in welchem Semester er European Studies studiert lacht er laut los. Auf seinem T-Shirt balanciert Jesus einen Basketball auf seinem Zeigefinger. Ähnlich fingerfertig bedient Hanno die Saiten seiner Akkustikgitarre, benutzt als einziger der drei auftretenden Künstler keine Loop Station, sondern nur Stimme und Gitarre als Instrument. Er zieht die gut 40 Zuhörer, hauptsächlich Studenten, die alle einen Platz auf Lillys hellem Parkett gefunden haben, mit einem energischen Auftritt in seinen Bann. Joe Marsons rothaariger Kopf wippt im Takt von „San Francisco“, Hannos drittem Lied. Hanno singt von Sehnsuchtsorten, mal mit breitem Grinsen, mal melancholisch. Trotzdem versprüht er dabei jede Menge gute Laune. Es ist der erste Sofar Sounds-Auftritt des Passauer Künstlers. Ihm gefällt es: „Sofar Sounds ist eine geile Sache. Es ist wichtig, Sachen ein Zuhause zu geben, damit etwas wachsen kann!“ philosophiert Hanno am Ende seines Auftritts. Erst als er eine Pause ankündigt fällt auf, wie warm es in Lillys Zimmer ist.
Anders als bei konventionellen Konzerten verschwindet Hanno nicht direkt hinter der Bühne, weit vom Publikum entfernt, sondern holt sich Lob und Highfives von den Gästen ab und diskutiert seinen Auftritt bei einem Bier in der Küche. Die Atmosphäre ist entspannt,man kann auf dem Balkon mit Innblick rauchen, Joe Marson ist heute nur Joe, keine Distanz, Musik ungefiltert.
Daniel von „Sleepwalker‘s Station“, einem internationalen Musikerkollektiv, erzählt er habe am Tag zuvor noch in Amsterdam gespielt. Zu der Gruppe gehören insgesamt 12 Künstler mit 5 Sprachen in 4 Dialekten. Sie haben sich bewusst gegen eine Kompromiss-Sprache entschieden. „Wir wollten so viele Sprachen wie möglich!“ sagt Daniel und lässt Taten folgen. In „hacia marte“ singt der große Musiker mit umgdrehter Schiebermütze auf dem Kopf auf Spanisch von einer Utopie auf dem Mars, in „Unterwegs“ auf Bairisch von der Heimat. Neben seiner Akkustikgitarre bedient er dazu eine Mundharmonika und ein Glockenspiel und entwickelt mit der Loop Station vielschichtige Melodien. „Democracy etc.“ ist dem Italo-Western-Komponisten Ennio Morricone gewidmet. Die blecherne Melodie der Mundharmonika verwandelt Lillys Zimmer über Daniels monotonen Gitarrenrhythmus in eine trockene Wüste und man sieht vor dem inneren Auge Clint Eastwood durch die Prärie reiten, während der Text das System kritisiert.
Auch Daniel von Sleepwalker‘s Station spielt mit viel Leidenschaft, sucht den direkten Draht zum Publikum.
„Be here with me!“
Für seine Tour in Europa ist Joe Marson, der dritte im Bunde, aus Los Angeles angereist. Man kann ihn sich gut auf dem Motorrad an der amerikanischen Westküste vorstellen, mit wehender roter Mähne. Aber der optische Eindruck täuscht: Marson beginnt mit einem ruhigeren, emotionalen Song. „Music is like love-making, you start slow, then start off!“ rechtfertigt er sich schelmisch. Marson singt gefühlvoll, begleitet von kernigen Riffs seiner rohen E-Gitarre. In der engen Wohnzimmeratmosphäre erzählt er von den Depressionen, die er durch seine Musik besiegte und in ihr verarbeitet hat: „You got so used to the darkness, you gon‘ get lost in the light!“ Neben den persönlichen behandelt der US-Amerikaner auch sozialkritische Themen. In „Explore or explode?“ begibt er sich nachdenklich auf die Suche nach der Menschlichkeit und deren Zukunft.
Den emotionalen Höhepunkt des Abends bildete sein fünfter und letzter Song „Here with me“. Eine beherzte Klage gegen den übermäßigen Medienkonsum, bei dem er zuvor das Filmen verbietet und an dessen Ende das ganze Wohnzimmer mitsingt.
Lillys Sorgen waren unberechtigt. Es war zwar ein bisschen eng und man hat buchstäblich aufgeatmet, wenn in den Pausen zwischen den Auftritten die Fenster geöffnet wurden, aber niemand hat sich beschwert: Sauerstoff und Platz sind angesichts der künstlerischen Leistungen und der intimen Atmosphäre nebensächlich. Es erinnert an ein kleines Klassenzimmer ohne Stühle und Tische. Nur eben, dass Hanno, Sleepwalker`s Station und Joe Marson anders als viele Lehrer die Zuhörer ausnahmslos mitreißen.
Den besonderen Charme der Sofar-Sounds-Konzerte machen die unterschiedlichen Orte aus. Jedes Zimmer, jedes Haus, jeder Gastgeber gibt dem Event einen eigenen Charakter, macht es einzigartig.
Lilly und ihr Team sind deshalb immer auf der Suche nach geeigneten Locations. Jeden Monat soll ein Sofa-Konzert in Passau stattfinden. Wer also Lust auf gute Musik, ein großes (Wohn-) Zimmer und kompromissbereite Nachbarn hat, kann Lilly und ihr Team unter der E-Mail-Adresse passau@sofarsounds.com erreichen. Das Gute dabei: Planung, Auf- und Abbau übernimmt das Sofar Sounds-Team.
Bilder: Julian Burkert
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