Nach dem gigantischen Erfolg der ersten Staffel der Netflix-Serie 13 Reasons Why (oder, brillant übersetzt: Tote Mädchen lügen nicht), war abzusehen, dass Netflix mit der Veröffentlichung einer zweiten Staffel nicht lange auf sich warten lassen würde. Eigentlich würde man meinen, dass die Geschichte rund um Hannah Baker und ihre Mitschüler auserzählt ist, schließlich haben sowohl das Publikum als auch alle Empfänger der Kassetten Hannahs tragische Lebensgeschichte vollständig angehört. Auch die Buchvorlage von Jay Asher hat keine Themen zu bieten, die in der ersten Staffel nicht bereits breitgetreten worden wären. Wie soll die Geschichte nun also bitteschön weitergehen? Wo ein Wille ist (und viel Geld), ist auch ein Weg. So wurden neue Handlungsstränge aus dem Nichts gesponnen und dann dermaßen weit ausgedehnt, dass sie tatsächlich mit Müh und Not 13 weitere Folgen füllen.
Zeitlich spielt die neue Staffel fünf Monate nach Hannahs Tod und zeigt neben den Hintergrundgeschichten jeder einzelnen auch nur halbwegs relevanten Figur, wie Menschen nach einer Tragödie mit dem Leben weitermachen. Im Mittelpunkt der Handlung steht Mrs. Bakers Gerichtsprozess gegen die High-School ihrer Tochter. Nacheinander müssen verschiedene Lehrer und Schüler auf den Zeugenstand treten, um ihre Version der Geschehnisse zu präsentieren. Das reißt alte Wunden auf und sorgt an der Liberty High für großen Ärger. Einige Schüler befürchten, dass im Gerichtssaal ihre Geheimnisse oder Verbrechen ans Tageslicht kommen könnten. In Form von Gerüchten, anonymen Drohungen oder Gewaltakten kommt es deshalb schon bald zu ersten Einschüchterungsversuche gegen die Zeugen. Zusätzlich machen ominöse Polaroidfotos die Runde, hinter denen sich weitere vertuschte Skandale der Liberty High verbergen.
In den Monaten nach Hannahs Tod haben einige der Figuren unglaublich tragische charakterliche Änderungen mitgemacht. Das ändert nichts daran, dass sich 13 Reasons Why weiterhin unzähliger High-School Klischees bedient. Es treten zickige Cheerleaderinnen, sensible Typen hinter einer Bad Boy Fassade, käsebleiche Nerds, arrogante Sportler und romantisch verklärte Schwule auf. An manchen Stellen gelingt es tatsächlich mal einen realistischeren Blick auf die Gefühlswelt von Teenagern zu werfen, der Aufarbeitungsprozess des Vergewaltigungsopfers Jessica Davis wird etwa mit viel Feingefühl erzählt. In der Regel wirken die Figuren jedoch unglaubwürdig. Während der Zuschauer früher noch Mitleid mit der Hauptfigur Clay Jensen hatte, muss er jetzt begleitet von einem heftigen Fremdscham-Gefühl mit ansehen, wie unbeholfen der junge Mann mit seiner Freundin Skye Miller umgeht. Clay richtet trotz seines stark ausgeprägten Helfersyndroms aufgrund seiner grenzenlosen Naivität gegenüber Themen wie Drogenabhängigkeit oder Persönlichkeitsstörungen nur noch mehr Schaden im Leben seiner Freunde an.
Nach der großen Kritik an der glorifizierenden Darstellung von Hannahs Suizid von Seiten der Medien und verschiedenen Gesundheitsorganisationen, hat man sich in der zweiten Staffel augenscheinlich Mühe gegeben, aus Fehlern zu lernen. In einer Video-Botschaft des Casts wird der Zuschauer schon vor Beginn gewarnt: „Tote Mädchen lügen nicht ist eine fiktionale Serie mit heiklen Themen aus dem realen Leben. Wir blicken auf sexuelle Übergriffe, Drogenmissbrauch, Selbstmord und mehr. Solltest du selbst mit den angesprochenen Problemen zu tun haben, ist das hier vielleicht nicht das Richtige für dich.“ Es folgt ein Verweis auf Hilfsorganisationen. Obwohl die Macher also versuchen Kontroversen aus dem Weg zu gehen, scheitern sie wieder am selben Kernproblem. 13 Reasons Why versucht zugleich in der Rolle des Aufklärers wichtige, gesellschaftskritische Statements zu setzen und eine unterhaltsame, hochdramatische Seifenoper für ein junges Publikum zu sein. Ob dieser Drahtseilakt zumindest in der kürzlich angekündigten dritten Staffel endlich gut gelöst werden kann, bleibt abzuwarten. Falls sich die überhaupt noch jemand anschaut.