Wir sind süchtig. Süchtig nach dem Internet, süchtig nach Social Media. Unser Selbstwertgefühl sehnt sich nach Bestätigung durch „Likes“ und „Follower“. Unser Wesen verfolgt einen Zustand, in dem wir nicht mehr allein sein wollen, nicht einmal allein mit uns selbst. Wir greifen mittlerweile eben lieber zum Handy, bevor auch nur den geringste Anflug von Langeweile aufkommen könnte, um die innere Leere für einen kurzen Augenblick zu füllen. Es kommt einem doch irgendwie so vor, als wäre das Internet unser neuer bester Freund geworden: Kaum ein Geheimnis können wir vor ihm bewahren, wir erhalten Liebe und Bestätigung von ihm und niemand kann unsere Gedanken und Wünsche so gut verstehen, ja sogar vorhersehen wie er.
Tja, willkommen in der Postmoderne. Das dritte Studioalbum „A Brief Inquiry Into Online Relationships“ der britischen Indie-Rock Band The 1975 widmet sich hauptsächlich einer Welt, in der das Internet das Sagen hat. Am 30. November diesen Jahres veröffentlichte die Band insgesamt 15 neue Lieder. Eines davon handelt von einem Mann, der das Internet nicht nur als besten Freund sieht, sondern dieses letztendlich auch heiratet. Poetisch vorgetragen von Siri, versteht sich.
The 1975 setzt sich zusammen aus Matthew Healy (Vocals, Gitarre und Keyboard), Adam Hann (Gitarre), George Daniel (Schlagzeug) und Ross McDonald (Bass), welche alle aus Macclesfield in Cheshire kommen. Die vier Musiker gründeten die Band 2002 und coverten vorerst Punk-Song. Im Laufe der Zeit fanden sie ihren eigenen, unverkennbaren Stil. Zu Touren begannen sie allerdings erst zehn Jahre später und schon zwei Jahre darauf – 2014 – hatten sie insgesamt 195 Shows in 29 Ländern gespielt. Mit ihrer zweiten Platte „I like it when you sleep, for you are so beautiful yet so unaware of it“, die 2016 ihr Debut feierte, hatte die Band in zwei Jahren über 400 Auftritte auf der ganzen Welt.
Wie der Titel schon erahnen lässt, dreht sich das neue Album um Beziehungen – vor allem durch Social Media vermittelt. Doch es geht auch um unsere Menschlichkeit, die sich durch die Digitalisierung deutlich verändert hat. Geläufigere Themen der Musik, wie etwa das Älterwerden oder Drogenkonsum, haben ebenfalls das Album geprägt. Denn gerade Matty, der Ende 2017 sieben Wochen in einem Rehabilitationszentrum in Barbados verbrachte, verarbeitete seine frühere Kokain- und Heroinabhängigkeit in den Songs.
„Kids don’t want rifles, they want supreme“
Außerdem wird immer wieder auf bestehende Missstände in unserer Gesellschaft verwiesen, ob nun politischer Herkunft oder nicht. „No gun required“ heißt es wiederholt in dem Song „I Like America & America Likes Me“, der hauptsächlich auf die Waffengewalt in den USA anspielt. Diese bringt er in absurde Verbindung mit dem Bedürfnis der Jugend nach „gehypten“ und überteuerten Markenklamotten. Eine Art Hommage an den Sound-Cloud-Rap, der in den letzten Jahren große Erfolge mit Künstlern wie Lil Peep oder XXXTentacion feierte.
„I should have liked it“
Das zentrale Motiv des am fröhlichsten und optimistischsten klingenden Songs der gesamten Platte soll Untreue sein? Kann man erstmal nicht glauben, wenn man sich das Musikvideo zu „TOOTIMETOOTIMETOOTIME“ ansieht, in dem die Fans von The 1975 die Hauptrolle spielen und heiter zur Musik tanzen und singen. Trotzdem bekommen wir hier eigentlich die Schwierigkeiten des Datings in unserer gegenwärtigen Gesellschaft aufgezeigt. Alles auf sozialen Plattformen strotzt nur noch so von Oberflächlichkeit, da ist es kein Wunder mal Ärger zu bekommen, wenn man das neueste Bild des Partners nicht geliked hat.
„Modernity has failed us“
Und dann haben wir da noch „Love It If We Made It“; den Aufstand der Millennials und der Generation Z, den Aufstand der Digital Natives. Gegen Rassismus, gegen das amerikanische Gefängnissystem und wie soll es auch anders sein, gegen Trump. Explizit wird nichts gegen die genannten Bereiche gesagt, vielmehr werden sie uns vor Augen geführt, als wollte die Band uns selbst zum Denken anregen.
„Selling melanin and then suffocate the black men“
In Amerika scheint sowohl ein Fetisch für afroamerikanische Kultur entstanden zu sein, als auch eine Art Phobie vor dieser. Jene Stelle im Songtext zeigt, wie paradox es doch ist, dass diese Kultur zwar von Etlichen gefeiert wird, oftmals aber auf eine sehr oberflächliche Art und Weise. Trotzdem zeugt der Refrain von Optimismus: „And I’d love it if we made it“. Gewissermaßen möchte man trotzdem an die Menschheit glauben und auf eine vielversprechende Zukunft hoffen.
Wer auf Melancholie steht, wird reichlich bedient.
Wer die Band schon kannte, weiß, in ihren Alben dürfen auf keinen Fall Songs fehlen, die so richtig schön auf die Tränendrüse drücken. Und dieses Mal wurden wir mit nicht gerade Wenigen davon bedient. Beim ersten Hinhören schießt einem womöglich der Gedanke durch den Kopf: „Wow, das sind aber viele kitschige Liebeslieder.“ Dabei sind sie dies gerade eben nicht. Zumindest nicht in erster Linie. Bestes Beispiel dafür: „I Couldn’t Be More In Love“. Zwar meinte Matty zu Genius er wolle, dass die Leute Schluss mit ihren Freundinnen machen und anschließend zu diesem Song weinen, weil der Song auch bewusst wie ein Liebeslied konstruiert wurde. Primär schrieb er den Song aber, um die Liebe zu seinen Fans und die Angst davor, sie zu verlieren, auszudrücken.
Ebenso unscheinbar klingt zunächst „Surrounded by Heads and Bodies“. Die traurige Gitarrenmelodie kombiniert mit der zittrigen Stimme von Matty lässt sofort beim ersten Vers melancholische Schwingungen frei, die das Herz schwer machen. Da muss es sich doch um eine verflossene Liebe handeln! Aber nein, gewidmet ist dieses Lied einer drogenabhängigen Frau, die zur gleichen Zeit wie Healy Patient in Barbados war und wohl einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hat.
Es ist okay älter zu werden!
Mit „Give Yourself A Try“ folgt einer der fünf Tracks, die seit dem 31. Mai in regelmäßigen Abständen vor dem Release von „ABIIOR“ veröffentlicht wurden. Seit Gründung der Band sind inzwischen 16 Jahre vergangen. Mit der Zeit haben sich die Mitglieder und ihre persönliche Einstellungen, Wünsche und Werte verändert. Eine normale Entwicklung, die aber manchmal schwer zu akzeptieren ist. Der Song spendet dabei Trost und ermutigt, die eigene Identität anzunehmen, denn es ist gut sich zu ändern, man soll sich ändern! Logischerweise darf eine Formel zu unserem eigenen Glück, mit Anspielung auf die Postmoderne nicht fehlen: Das Glück schlummert da draußen, in der realen Welt. Nicht in irgendwelchen Geräten, die wir stundenlang anglotzen und darauf herum tippen!
Musik fürs Auto
„There’s anger in ‘A Brief Inquiry…’, but there’s everything in there. It needs to be hopeful; it needs to be fearful, it needs to be everything I am. Insecure, cocky, fragile. I’m a modernist. I’m not about retrogressive ideas. I love moving things forward; I love technology. I love robots. I’m all about the future, if we get one.“ (Matty zu NME)
Dieser Ausschnitt zeigt: Technologie und Fortschritt bedeuten jedoch nicht automatisch etwas Schlechtes. Es kommt darauf an, wie wir persönlich mit diesen neuen Möglichkeiten umgehen wollen. Man sollte differenzieren können, wann es sinnvoll ist zum Smartphone zu greifen oder wann es vielleicht mal besser wäre den Bezug zur realen Welt wiederzufinden. Hier ein kleines Anwendungsbeispiel: Setzt euch ins Auto, nehmt euer Handy heraus und lasst das neue Album von The 1975 abspielen, legt euer Handy selbstverständlich wieder weg, fahrt los und dreht noch ein bisschen lauter. Nicht ohne Grund nennt die Band ihre Musik liebevoll „Music for Cars“; und hört auch unbedingt in die Songs rein, die noch nicht erwähnt wurden!
Wem das Albums jedoch an manchen Stellen ein wenig zu melancholisch oder zu politisch ist, kann sich schon mal auf 2019 freuen. Da erwartet uns das bereits angekündigte vierte Studioalbum von The 1975, das den Namen „Notes on a Conditional Form“ tragen wird. Dieses soll viel intimer und cinematischer sein, wie für die Nacht geschaffen und perfekt, um es spät abends im Auto zu hören.