Es ist Mittwoch Morgen, kurz vor halb neun, das Thermometer zeigt bereits 22 Grad an. Annika ist zu Fuß vor etwa 15 Minuten am Schanzl gestartet und inzwischen am Nikola Kloster der Uni Passau angekommen. Nun macht sie sich am Inn entlang auf den Weg zur „Krümelkiste“, der Uni-Kinderkrippe in Passau. Annika trägt eine lockere langärmlige weiße Bluse mit orangenen Streifen und dazu eine passende orangefarbene Shorts mit Spitze. Ihr langer Pferdeschwanz wippt beim Schieben des grauen Kinderwagens von links nach rechts. Unter seinem Sonnendeck lukt Finn mit weit geöffneten Augen heraus und beginnt grinsend zu winken. „Er hat vor kurzem das Flirten gelernt“, lacht Annika.
Finn ist inzwischen knapp über ein Jahr alt. Annika hat ihn mit 21 Jahren im Mai 2018 zur Welt gebracht. Die Pfälzerin verschlägt es im Oktober 2016 zum Studieren in die Dreiflüssestadt. Sie startet damals mit European Studies, wechselt nach zwei Semestern aber zu Kulturwirtschaft. Gegen Ende des dritten Kuwi-Semesters wird sie ungeplant schwanger.
Als sie von der Schwangerschaft erfährt, hat sie noch drei bis vier Wochen Zeit, um zu entscheiden, ob sie das Kind behalten will oder nicht. Sie spricht in dieser Zeit viel mit ihrer Mutter und Freunden und geht zu verschiedenen Beratungsstellen. Unterstützung vom Vater gibt es keine, obwohl die beiden vor der Schwangerschaft bereits eine Weile zusammen sind. „Er lebt im Ausland und nachdem ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, war er mehr oder weniger sofort weg und hat sich auch nicht wirklich weiter dafür interessiert.“
Annika vereinbart schließlich einen Abtreibungstermin. Sie sitzt bereits auf dem Behandlungsstuhl, als der Arzt fragt, ob sie sich sicher sei. Da Annika die Frage verneint, führt der Arzt die Abtreibung nicht durch. Stattdessen will er wissen, ob sie sich nun besser fühle. Diesmal bejaht Annika. „Dann werden wir uns wahrscheinlich nicht wiedersehen“ – der Arzt behält recht. Über diese Entscheidung ist Annika inzwischen sehr froh und würde es immer wieder so machen. „Es war nicht geplant, aber dann sehr gewollt.“
Etwas mehr als ein Prozent der Studierenden in Passau hat ein oder mehrere Kinder
An der Uni Passau waren 2013 etwa 140 Studierende mit Kind eingeschrieben, das entspricht etwas mehr als einem Prozent der gesamten Studentinnen und Studenten. Deutschlandweit sind es laut der 21 Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks sechs bis sieben Prozent, für Europa gelten die gleichen Zahlen.
Auf Höhe des ZMKs biegt Annika nach rechts, um über den Campus auf die Innstraße zu gelangen. Sie weiß genau, wo sie mit Kinderwagen lang kann und wo nicht.
Inzwischen bringt sie Finn immer zwischen acht und halb neun in die Krippe, wenn sie kein Seminar um acht Uhr hat. Heute ist sie um 06:45 Uhr aufgestanden, um noch ihre 20 Minuten für sich zu haben, bevor Finn aufwacht. Der ist nämlich kein Morgenmensch und braucht ihre volle Aufmerksamkeit, wenn er einmal wach ist. Anfangs war das – für Studierende sehr untypische – frühe Aufstehen hart für sie. Inzwischen hat sich Annika aber daran gewöhnt und kann gar nicht mehr ausschlafen – gegen neun Uhr ist ihr Pensum erreicht.
Zu Beginn ihrer Schwangerschaft hat sie sich an Elke Penteker, die Sozialberaterin der Universität Passau, gewendet. Diese berät Studierende mit ungeborenem oder geborenem Kind über Finanzierungsmöglichkeiten, Studienorganisation und weitere Angebote und leitet sie an andere Beratungsstellen weiter.
Frau Penteker möchte auch einen Raum schaffen, in dem Gedanken ausgesprochen werden. Die Sozialberatung ist nämlich oft die erste Anlaufstelle, wo Studentinnen aussprechen, dass sie schwanger sind. 2018 hatte Elke Penteker 49 Beratungskontakte zu dem Thema Studieren mit Kind. Insgesamt macht das zehn Prozent aller Beratungskontakte aus.
Elke Penteker gestaltet die Beratung wertefrei und sieht ihre Aufgabe nicht darin, die Studentinnen oder Paare zu überzeugen, das Kind zu behalten. Sie hat aber trotzdem den Eindruck, dass die, die Beratung suchen und sich öffnen, das Kind eher behalten. Das Aufzählen der Unterstützungsmöglichkeiten wirke außerdem für viele entlastend. „Es ist schön zu sehen, was ein bisschen Raum und Zeit bei einem Menschen bewirken kann.“
Während ihrer Schwangerschaft im vierten Semester belegt Annika besonders viele Kurse, um vor der Geburt noch möglichst viel abzuhaken. Einen Teil der Prüfungen schreibt sie noch im August nach Finns Geburt und besteht diese mit guter Leistung. Im Wintersemester 2018/19 macht sie Pause, um sich voll und ganz Finn zu widmen und verbringt viel Zeit bei ihrer Familie in der Pfalz. Sie entscheidet sich allerdings gegen ein Urlaubssemester, damit sie weiterhin Bafög beziehen kann.
Studierende mit Kind haben Anspruch auf finanzielle Unterstützung
Studierende mit Kind bekommen einen Bafög Zuschlag von 130 Euro pro Monat – es handelt sich hierbei um einen Vollzuschuss, der nicht zurückgezahlt werden muss. Außerdem wird die Förderungshöchstdauer um ein Semester verlängert und kann je nach Semesterzahl zum Zeitpunkt der Schwangerschaft und je nach Alter des Kindes noch um weitere Semester verlängert werden. Es besteht außerdem ein Anspruch auf knapp 200 Euro Kindergeld, auch wenn die Eltern dieses selbst noch beziehen. Studenten erhalten in der Regel den Mindestbetrag von 300 Euro Elterngeld, außer sie haben davor bereits vollbeschäftigt gearbeitet. Zudem können Studierende mit Kind Mehrbedarf beim Jobcenter zu beantragen. Das Jobcenter und die Stiftung Mutter und Kind steuern außerdem Mittel für die Erstausstattung bei. Alleinerziehende Mütter können zusätzlich bei der Stiftung Madame Courage finanzielle Unterstützung beantragen. Im Notfall stellt die Sozialberatung der Universität Passau ein Not-Budjet für Familien an der Uni. Es handelt sich hierbei nur um eine Auswahl der Möglichkeiten – welche der Mittel Studierende mit Kind letztendlich beziehen, kommt ganz auf die individuelle Situation an.
Annika bekommt außerdem Unterstützung von ihren Eltern, die Anschaffungen für Finn mitfinanzieren. Ohne die wäre es schwieriger gewesen, Annikas Meinung nach aber trotzdem möglich. Vieles der Erstausstattung kauft sie auch gebraucht oder bekommt es von Bekannten der Familie geschenkt. „Da gebe ich für mich teilweise mehr aus“, witzelt sie. Finn und sie haben das ganze erste Jahr noch in Annikas Einzimmerwohnung gewohnt und sind erst in den Semesterferien in eine Dreizimmerwohnung am Schanzl gezogen.
Inzwischen ist Annika in der Innstraße 47 angekommen. Neben dem Sportzentrum befindet sich hier die Uni- Kinderkrippe. Sie stellt den Kinderwagen an der Eingangstür ab, nimmt Finn hinaus und trägt ihn an den Garderoben vorbei zu der gläsernen Tür der Zwergerlgruppe. Hier kommt ihr eine Betreuerin bereits entgegen, nimmt ihr Finn ab und bringt ihn zu sechs anderen spielenden Kindern in den Raum. Finn ist jedoch damit beschäftigt Annika hinterher zu schauen und beginnt zu weinen. Annika lässt sich dadurch allerdings nicht aus der Ruhe bringen: „Das ist ganz normal, er weint immer, wenn ich gehe und komme. Sobald ich weg bin, ist scheinbar alles in Ordnung.“
Die Betreuerin wird Annika anrufen, wenn sie Finn abholen soll. Er ist nun seit zwei Monaten in der Krippe und befindet sich noch in der Eingewöhnungsphase. In Moment bleibt er in der Regel bis zwölf oder halb eins in der Krippe. Nach der Eingewöhnungsphase soll er bis 14:00 Uhr und an zwei Nachmittagen der Woche auch bis 17:00 Uhr in der Krippe bleiben.
Die Krümelkiste bietet Platz für 24 Kinder im Alter zwischen etwa 10 Monaten und drei Jahren. Finn ist in diesem Semester der Einzige, der einen Krippenplatz bekommen hat. Studierende werden in der Krippe gegenüber Universitätsmitarbeitern und Externen bevorzugt. Wenn sich jedoch für längere Zeit keine Studierenden bewerben, werden die Plätze gefüllt und sind folglich für bis zu drei Jahre besetzt. Elke Penteker empfiehlt deswegen, sich spätestens ab der Geburt mit der Krippe in Verbindung zu setzten, um sich auf der Warteliste einzutragen – absagen kann man den Platz ja schließlich immer.
Annika stellt Finns Kinderwagen in einem dafür vorgesehenen Raum der Krippe und macht sich nun zurück am Campus entlang auf den Weg in die Zentral-Bibliothek, um die freie Zeit am Vormittag für die Uni zu nutzen. Vorlesungen arbeitet sie alle selbst nach, Tutorien und Übungen versucht sie zu besuchen. Allerdings liegt ein Großteil der Veranstaltungen in diesem Semester am Nachmittag, also dann, wenn Finn nicht mehr in der Krippe ist. Er hat für Annika immer Vorrang – sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie den ganzen Tag keine Zeit mit ihm verbringt.
Das ein oder andere Seminar am Nachmittag kann sie dank Unterstützung aber trotzdem besuchen. Annikas Oma wohnt in der Nähe von Passau und passt sehr gerne auf ihren Ur-Enkel auf. Heute Nachmittag wird eine Freundin auf Finn aufpassen. Gerade in der Anfangszeit nimmt Annika Finn aber auch einfach mit, wenn sie etwas erledigen muss. In der Bibliothek gibt es einen Eltern-Kind-Raum in dem Finn spielen kann, während sie lernt. Auch die Eltern-Kind-Ecke in der Mensa nutzt sie manchmal. Seit Finn in der Krippe ist, isst sie aber häufiger bevor sie ihn abholt, weil es sich entspannter essen lässt, wenn sie nicht immer ein Auge auf ihn werfen muss.
„Er war schon mal bei Bierpong dabei und ganz begeistert.“
Annikas Studentenleben hat sich seit Finn stark verändert. Sie integriert sich vor der Geburt stark in den Unialltag und engagiert sich in vielen Hochschulgruppen, wofür inzwischen einfach die Zeit fehlt. Einige Bekanntschaften haben sich verlaufen, weil Annika abends nicht mehr mit feiern gekommen ist und die Lebenstiele zu unterschiedlich wurden. Dafür sind neue Freundschaften entstanden, mit denen sie davor nicht gerechnet hätte. Finn ist inzwischen auch das „WG-Baby“ einer Freundesgruppe. Wenn nicht gerade eine große Party ansteht, nimmt Annika ihn oft mit. „Er war schon mal bei Bierpong dabei und war davon sehr begeistert“, erzählt sie lachend. Außerdem geht sie seit diesem Semester wieder jeden Montag um 20:00 Uhr zum Treffen der Hochschulgruppe muestra, die jedes Jahr ein internationales Filmfestival organsiert. Weil sie sich dort schon vor Finns Geburt engagiert hat und die Leute bereits kennt, fühlt sie sich auch nicht blöd dabei, dort mit Kind aufzutauchen.
Annika entgeht dem Risiko, einer dieser Mütter zu werden, die zuhause sitzen, bis ihnen die Decke auf den Kopf fällt und sie vor lauter Langweile einen Blog starten, bewusst. In kurzen Momenten vermisst sie ihr altes Studentenleben aber schon, wenn es ein besonders anstrengender Tag war oder sie per Whats App mitbekommt, dass ihre Freunde noch spontan was trinken gehen. „Aber Finn macht das eigentlich immer wieder gut.“
Eigentlich hat sie damit gerechnet, Finn heute wieder zwischen zwölf und halb eins abzuholen. Da er aber zum ersten Mal zwei Stunden Mittagsschlaf gemacht hat, kommt sie erst um viertel vor zwei zur Krippe. Ab nächster Woche kann Finn voraussichtlich immer bis ca.13:30 Uhr bleiben. Er spielt, als Annika ankommt, trotz der langen Trennung sehr fröhlich und ausgelassen mit seinen Freunden. Sie stillt ihn noch in der Krippe, setzt ihn in den Kinderwagen und bringt ihn gleich darauf schräg gegenüber in die Wörthstraße. Hier wohnt eine gute Freundin von Annika, die Finn schon seit seiner Geburt kennt. Sie wird zusammen mit ihrem Freund auf ihn aufpassen, während Annika in ihrem Seminar ist. Mittwochs ist ein sehr unilastiger Tag und eine Ausnahmesituation. Insgesamt hatte Annika nur zehn Minuten mit Finn und eilt weiter zu ihrem Seminar, das im HK-Gebäude in der Hans-Kapfinger-Straße, etwa 15 Gehminuten von der Wörthstraße entfernt, stattfindet. Ihr Seminar geht bis 18:00 Uhr – falls es Probleme gibt, wird sie ihren Sohn schon früher abholen.
Die Flexibilität des Studiums ist ein Vorteil für Eltern
In solch stressigen Situationen denkt sich Annika manchmal schon, dass sie das Studium ja auch einfach abbrechen könnte. Ernsthaft stand diese Entscheidung allerdings noch nie im Raum. Finn während des Studiums zu bekommen, bringt auch viele Vorteile für sie. Sie muss keine Elternzeit nehmen und ihre Karriere unterbrechen. Stattdessen ist sie sehr flexibel in ihrer Zeiteinteilung und belegt pro Semester einfach weniger Kurse. So muss sie zwar länger studieren, das stört sie aber nicht.
Das Studium ist ihrer Meinung ein guter Zeitpunkt, um ein Kind zu bekommen. Sie würde aber trotzdem niemanden empfehlen, bewusst währenddessen schwanger zu werden. „Man muss sich im Klaren sein, dass man nie zu 100 Prozent Student oder zu 100 Prozent Mama sein kann.“ Annika hat ihre Erwartungen runtergeschraubt und sich von dem Gedanken verabschiedet, dass sie immer alles sehr gut hinkriegt. Eine ordentliche Wohnung steht zum Beispiel ganz hinten auf ihrer To-Do Liste.
Sie hört während ihres Seminars nichts von ihren Freunden, was ein Zeichen dafür ist, dass alles glatt läuft. Um 18:00 läuft sie den Weg vom HK zurück zur Wörthstraße. Finn sitzt mit Annikas Freunden im Garten. Er liebt es draußen zu sein, zu Beginn seiner Krippenzeit ist die ganze Gruppe morgens mit ihm nach draußen gegangen, weil ihm die Eingewöhnung dort leichter fiel. Annika setzt sich noch kurz dazu, um Finn zu stillen und sich mit ihren Freunden über den Nachmittag zu unterhalten. Finn hat zwar manchmal über die Mauer des Gartens gespäht, um nach Annika Ausschau zu halten, ansonsten hat er jedoch keine Sperenzchen gemacht.
Die beiden machen sich schließlich auf den Rückweg nach Hause. Finn liegt ziemlich müde in seinem Kinderwagen. Die beiden werden noch essen und die Zeit miteinander aufholen, die sie heute nicht miteinander verbracht haben, bis Finn gegen 20:00 schlafen gehen wird. Annika wirkt trotz des langen Tages, der wenigen Zeit für sich selbst und dem vielen Hin und Hers durchgehend ausgeglichen und zufrieden und kein bisschen gestresst. „Es ist schon anstrengend mit ihm, aber immer sehr schön“.
Sie wird voraussichtlich im Sommer 2020 ihre Bachelorarbeit schreiben. Was danach kommt, weiß sie noch nicht genau. Irgendwann muss sie noch ihr Auslandssemester nachholen. Am liebsten würde sie ein Praktikum in Holland machen und Finn mitnehmen. Aber sie hat aufgehört zu planen – „das ist mit Kind immer ein bisschen schwierig“.
Fotos: Janina Lambrich