Toxische Positivität

Die ganze Vielfalt, der ganze Reiz, die ganze Schönheit des Lebens besteht aus Schatten und Licht“.  – Leo Tolstoi

„Emotionale Agilität“ heißt das von Dr. Susan David, Psychologin an der Harvard Medical School, eingeführte Konzept, das sich gezielt gegen zwanghafte Positivität und das ständige „Weichspülen, Negieren und Unterdrücken“ von negativen Emotionen richtet.  

Emotionale Agilität wird dabei definiert als „die Art, wie wir durch unsere Innenwelt navigieren – mit unseren täglichen Gedanken, Emotionen und subjektiven Wahrnehmungen; […] und dabei mit Selbstakzeptanz, Klarheit und Aufgeschlossenheit durch die Höhen und Tiefen des Lebens zu gehen.“

Schlimmer als negative Emotionen an sich ist nämlich die Tatsache, dass wir ständig versuchen sie zu bekämpfen, ignorieren und zu unterdrücken. Laut Dr. David zeigen wir zwei primäre Reaktionen auf negative Gefühle: Wir verurteilen uns dafür und / oder versuchen, diese direkt wieder zu verbannen. Die Botschaft, die wir dabei unbewusst an uns selbst senden ist: „Deine Gefühle sind nicht ok, es gibt hierfür keinen Raum, Zeit oder Akzeptanz“.

Der Blog einguterplan schreibt dazu: „Immer positiv zu sein ist ein äußerst unrealistischer Anspruch, den wir an uns selbst stellen. Der Druck, ständig gut gelaunt zu sein, macht uns krank, untergräbt unsere Authentizität und kann dazu führen dass wir uns voneinander abschotten, wenn  wir diesem hohen Ideal nicht gerecht werden.“ Sich für seine Empfindungen selbst zu verurteilen ist für die Psyche aber weit schlimmer, als manchmal traurig oder wütend zu sein. Was fehlt, ist das allgemeine Bewusstsein, dass sämtliche Emotionen normal und menschlich sind. Sie ständig zu unterdrücken hingegen ist ungesund und gefährlich.

Auch Erfolgsautor Tobias Haberl thematisiert in seinem Buch Die große Entzauberung den mit zwanghafter Positivität einhergehenden Ehrlichkeits- und Authentizitätsverlust der Gesellschaft: „Wir haben damit begonnen, die Wirklichkeit zu modifizieren, um sie besser ertragen zu können. Dafür blenden wir die Vorstellungen aus, die unseren Vorstellungen im Wege stehen. Im Gegenzug haben wir aufgehört uns dafür zu interessieren, wie sie wirklich ist. […] Wenn aber nur noch die eine, die positive Hälfte des Lebens stattfinden darf, wenn sämtliche dunklen Aspekte übertüncht werden, wird die menschliche Existenz buchstäblich zu einer halben Sache.“

Wer immer versucht, alles zwanghaft positiv zu sehen, entwickelt eine schiefe Perspektive auf die Realität. Manchmal ist es aber notwendig, genau hinzusehen und schonungslos ehrlich zu sich selbst zu sein, um wahre Erkenntnisse und Entwicklungen in Gang setzen zu können.

Und das allgegenwärtige Streben nach Optimismus, Selbstverwirklichung und Zufriedenheit ist durchaus kritisch zu betrachten: Im 21. Jahrhundert steht der „optimistische, sich selbst radikal bejahende und konsumfreudige Mensch“ hoch im Kurs und ist idealer Bestandteil unserer leistungsorientierten Gesellschaft. Negative Emotionen hingegen werden ausschließlich als Erfolgs- und Karrierehindernisse angesehen, die beseitigt werden müssen. Dauern diese länger an, werden sie  allzu schnell als Abnormität oder Krankheit eingestuft.

Der amerikanische Psychiater Allen Frances schreibt in seinem Buch Normal- gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen: „1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein Jahr lang um einen Angehörigen trauerte. 1994 empfahl man Psychiatern, mindestens zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und Apathie als behandlungsbedürftige Depression einstufte. Ab Mai 2013 wird nun empfohlen, schon nach wenigen Wochen mit diesen Symptomen die Alarmglocken läuten zu lassen.“

„Die Traurigkeit hat ihre Daseinsberechtigung eingebüßt.“ (Haberl)

Wer gerade traurig, wütend oder melancholisch ist, kann nicht produktiv sein oder konsumieren. Wer zu Hause sitzt und an die Wand starrt, kauft nichts, liket nichts und bildet ein defektes Rädchen in der allübergreifenden Zahnradfabrik aus Optimierung, Leistung und Konsum.

Von klein auf werden wir mit gewissen Regeln, Moralvorstellungen und Idealen konfrontiert, die nicht selten dazu führen, dass wir unsere Emotionen beständig unterdrücken und rationalisieren, um gewissen Ansprüchen gerecht zu werden und sich den Erwartungen zu fügen, die an uns gerichtet werden. Positive und energiegeladene Menschen stehen oft auf der Erfolgsseite des Lebens; sie tun sich in der Regel leichter, in der Gesellschaft Anschluss zu finden, Freundschaften zu schließen, Karriere zu machen. Doch was, wenn falsche oder unerreichbare Ideale dazu führen, dass wir uns viel zu sehr verbiegen, um diesen gerecht zu werden? Und wie sähe eine Welt aus, in der jede Negativität und jedes Temperament eliminiert würde – eine Welt ohne Widersprüche, ohne Tiefe, ohne echte Diversität? 

Man stelle sich eine Welt vor, die nur aus Positivität und guter Laune besteht: Wir kennen Varianten davon in Form von Profilen zahlreicher Influencer auf Instagram, Samstagabend-Shows mit Helene Fischer und dauerhaft gut gelaunten Radiomoderatoren am frühen Morgen. Und wir wissen auch alle, wie sich sowas anfühlt: irgendwie gezwungen und falsch. In einer Welt, in der nicht differenziert wird und alles gleich gut ist, ist auch irgendwie alles gleich egal. Und auf geradezu lebensfeindliche Art monoton. Haberl schreibt dazu: „Die Kraft der Negativität besteht doch gerade darin, dass Dinge durch ihr Gegenteil belebt werden. Oft sind es die Gefahren, Tragödien, Konflikte, schwarzen Stunden, die dafür Sorgen, dass wir uns intensiver am Leben fühlen“.

Das Leben existiert in gegensätzlichen Polaritäten und das ist gut so. Lachen und Weinen, Freude und Trauer, Liebe und Hass. Laut Dr. David ist es existentiell für die mentale Gesundheit, das ganze Spektrum unserer Gefühlswelt zuzulassen und zu akzeptieren. Ihren Forschungsergebnissen zufolge  kann ein achtsamer Umgang mit unseren Emotionen Angst- und Stressempfinden reduzieren, die Gefahr, an Burnout zu erkranken verringern, zu mehr Effektivität und Erfolg führen und uns darüber hinaus helfen, uns selbstsicherer in unserer anspruchsvollen und komplexen Welt zu bewegen (einguterplan).

 

 

Dieses Thema hat Euer Interesse geweckt? Meine Quellen und weiterführende Lektüre für Euch:

  • Dr. Susan David – Emotional Agility
  • Tobias Haberl – Die große Entzauberung
  • Osho – Emotional bewusst
  • Blog Einguterplan – Toxische Positivität