Uni geschlossen, Kellnern unmöglich, Urlaub abgesagt. Es ist Corona-Zeit. Was bleibt da noch zu tun? Per Online-Bestellung habe ich mich mit Lesestoff eingedeckt, und zwei Seminararbeiten müsste ich auch endlich mal fertig schreiben. Und was tut Studentin, wenn der Popo vom Sitzen und die Augen vom Lesen müde werden? Joggen natürlich. Also, Laufschuhe anziehen und los in den Wald, der hier in meiner Heimat quasi vor der Haustüre beginnt. Nach dem ersten Stück senkt sich die Steigung ab, und ich will Tempo aufnehmen, da werde ich von einer Betonblockade ausgebremst. Mitten auf dem Weg! Was soll denn dieser Mist?! Da beginnt es langsam zu dämmern… Der Weg führt an dieser Stelle über die Grenze in die Schweiz. Corona, Grenzschließungen… da war ja was.
Ich bin in der Heimat bei den Eltern gestrandet. Unter den momentanen Umständen ist das gar nicht schlecht. Anstatt allein in Passau die WG zu hüten, habe ich die Gesellschaft meiner fünfköpfigen Familie, und kann hier nach Lust und Laune die Sonne im Garten genießen. Genau wie Passau direkt an der Grenze zu Österreich liegt und Tschechien nicht mehr weit ist, grenzt mein Heimatort an die Schweiz und nach Frankreich ist es ein Katzensprung. Seitdem die Welt Kopf steht, sind alle diese Grenzen geschlossen und die Auswirkungen deutlich zu spüren. Und das nicht nur bei meiner Joggingrunde, um die ich sehr trauere.
Mit den Schweizern leben wir hier normalerweise in einer Art Symbiose. Die Basler reden genau so seltsam wie die Österreicher und sind deswegen und an ihren Autokennzeichen deutlich zu erkennen. Wir von der deutschen Seite gehen gern in die Schweiz zum Arbeiten (man munkelt, es läge an den Löhnen). Die eidgenössischen Nachbarn kommen gern zu uns, um einzukaufen oder essen zu gehen (vage Vermutung: wegen der Preise). Dieses natürliche Gleichgewicht ist nun aus den Fugen geraten. Seit dem 16. März gilt die Grenzsperre. Ausschließlich zum Arbeiten darf man mit einem Passierschein noch über die Grenze, aber da die meisten Firmen sowieso auf Home Office umgestellt hatten, blieben viele der Frankenverdiener daheim. Diejenigen, die doch über die Grenze mussten, hatten die schier unmöglich zu bewältigende Aufgabe, pünktlich auf der Arbeit zu sein. An den Grenzübergängen, die noch geöffnet waren, stand man stundenlang im Stau. Und die, die normalerweise über einen der kleineren Grenzübergänge radeln, haben nun eine deutlich weitere Strecke, bis sie einen geöffneten Grenzübergang finden. Verrückte Welt.
Doch nicht nur Lohn und Lebensmittel wandern hier regelmäßig über die Grenze. Auch viele Beziehungen und Familien leben im Alltag in verschiedenen Ländern, schließlich spürt man die Grenze normalerweise ja kaum. Aufgrund der Grenzschließungen gibt es nun Eltern, die ihre Kinder nicht mehr sehen dürfen, und Partner, die sich nicht treffen dürfen. So nah und doch so fern. Die Trennung der Liebesbande sorgt für allerlei Kreativität und die ein oder andere Schlagzeile, bei der man schmunzeln muss. Die Oberbadische Zeitung titelt: „Im Kofferraum zum Liebsten über die Grenze“. Das Ganze nahm kein happy end, die Verliebte wurde am Zoll entdeckt.
In Lauterbach im Saarland hat ein Mann eine Lösung für seine schmerzliche Trennung gefunden. Jeden Morgen kommt er mit seiner Angel an die französisch-deutsche Grenzabsperrung und lässt sich so auf sozialer Distanz seine geliebten französischen Baguettes herüberreichen. Love finds a way.
Im Ort kursieren Gerüchte, Schweizer kämen über die grüne Grenze durch den Wald, um weiterhin bei uns einzukaufen. Ob das so stimmt, zweifle ich an, denn sie können sich momentan ja schlecht die Mehrwertsteuer rückerstatten lassen. Trotzdem steht immer wieder die Schweizer Grenzwacht ganz unerwartet im Wald, und kontrolliert, dass ich bei meiner Joggingrunde auch ja nicht über die Betonabsperrung in die Schweiz hüpfe.
Die Grenzschließungen machen im Anbetracht der Lage Sinn, das steht außer Frage. Die Situation zeigt mir jedoch, wie verwöhnt ich bin. Meine Generation kennt dieses Konzept von Landesgrenzen nicht. Sei es hier, in Passau oder anderswo, es ist wortwörtlich eine Grenzerfahrung im doppelten Sinne.
Das Wort „Passierschein“ kannte ich bis jetzt lediglich aus historischen Romanen und in meinem Kopf ist es fest mit dem zweiten Weltkrieg verankert. Solche Wörter jetzt zu hören, ruft in mir ein mulmiges Gefühl hervor. Beim Nachmittagsspaziergang mit meinen Eltern (natürlich ausschließlich auf deutscher Seite) flog ein Militärhubschrauber mehrfach die Grenze entlang. Mitten im Wald steht die Schweizer Grenzwacht und schickt Gassigänger und Mountainbiker mit ernsten Verwarnungen zurück auf die andere Seite des Waldes. Ich habe daheim gegoogelt, und herausgefunden, dass diese Verwarnungen sogar relativ freundlich sind. Bis zu einem Jahr Haftstrafe kann bei illegaler Einreise verhängt werden (oder ein Bußgeld, aber ich gebe euch einen Tipp: die sind in der Schweiz noch teurer als Restaurantbesuche).
Für mich ist eine Grenze nicht viel mehr als ein Schild und ein unbesetztes Zollhäuschen. Dass ich für meinen Tschechien-Urlaub Geld wechseln musste, war für mich schon ein Erlebnis.
Wie seltsam das alles ist. Es stehen auf der deutschen Seite des Waldes die gleichen Bäume wie auf der Schweizer Seite, es riecht gleich und so ganz grundsätzlich kann ich keinen Unterschied erkennen. Und doch ziehen wir als Menschheit mitten durch diese Idylle einen imaginären Strich und beschließen, den Seiten zwei verschiedene Namen zu geben. Dabei arbeiten diese beiden Seiten momentan mit den gleichen Maßnahmen gegen den gleichen Feind.
Zum ersten Mal erfahre ich, wie sich das wohl angefühlt haben muss, ohne die EU und das Schengenabkommen. Und um ehrlich zu sein, es fühlt sich gruselig an. Man bekommt vorgehalten, fremd zu sein, ein Eindringling. Ich fühle mich nahe an der Grenze wie ein Kind, das etwas falsch macht und ein schlechtes Gewissen hat, aber nicht ganz versteht warum eigentlich. Dabei ist das hier doch alles mein Zuhause, meine Heimat.
Als ich meiner Mama von meinen Beklemmungen erzählt habe, hat sie herzlich gelacht. Und mir dann eine Geschichte erzählt, wie sie einmal eine Tante in der DDR besucht hat.
Ich habe Europa ohne Grenzen nie für selbstverständlich genommen. Mir war stets bewusst, dass meine Generation in dieser Hinsicht sehr privilegiert ist. Momentan jedoch lerne ich, wie viele andere junge Leute in Grenzgebieten, was Grenze tatsächlich bedeutet, und uns geht ein Licht auf, wie die Dinge wohl vor der Europäischen Union waren. Erst jetzt lerne ich, wie viel Europa wirklich wert ist.
Es geht dabei nicht nur um Politik und Finanzen, sondern um grundlegende Freiheiten und Menschenbilder. Dass meine Freiheit, überall joggen zu gehen nun eingeschränkt ist, zeigt wie lieb mir diese ganzen Rechte und Freiheiten sind.
Und es ist eine Warnung, wie meine Welt werden könnte, wenn Europakritiker politische Entscheidungsmacht bekämen. Das offene Europa ist nichts, was einfach weiter besteht, man muss die interstaatlichen Beziehungen pflegen. Grenzen abzubauen und die Menschen zusammenzubringen sollte nach der Krise wieder an erster Stelle stehen. All die Herausforderungen: Wiederaufbau der Wirtschaft, Hilfeleistungen, Rettungsschirme, das alles könnte auf europäischer Ebene gedacht werden.
Wir tragen Verantwortung füreinander. Schließlich sind in einigen Ländern die Gesundheitssysteme marode, weil die EU ihnen einen strengen Sparkurs auferlegt hat. Ich sehe das Konzept Europa wie eine polyamoröse Ehe. In guten wie in schlechten Zeiten. Dabei darf jeder seine Meinung frei äußern, und reden, wie ihm/ihr der Schnabel gewachsen ist (die Welt wäre traurig ohne Schwiizerdütsch). Durch das Teilen von Ideen und Überzeugungen entsteht Neues.
Wir müssen uns klar werden, was wir für Freiheiten haben, und dafür kämpfen, sie zu erhalten. Sonst kommen irgendwann die an die Macht, die daran arbeiten, diese Freiheiten abzuschaffen, weil sie Angst vor der Sprache oder den Ideen der anderen haben. Das dürfen wir nicht zulassen.
Für meine Joggingstrecke habe ich zwar würdigen Ersatz auf deutscher Seite gefunden, aber meine Lieblingsstrecke wird immer die über alle Grenzen sein.
Fotos: Lisa Bartelmus