Ich bin in Grenoble angekommen. Inzwischen sowohl physisch als auch mental. Heute bin ich zwei Wochen hier, aber es kommt mir vor als wäre es schon eine Ewigkeit her, dass ich in mein bescheidenes 12 qm Wohnheimzimmer gezogen bin. Die letzten 14 Tage waren chaotisch, stressig, schön und alles andere als langweilig. Was alles passiert ist und warum ich jetzt gerade in Quarantäne bin erfahrt ihr, wenn ihr weiterlest. Viel Spaß!
Organisatorisches
Da denkt man gerade, es wäre alles organisiert für das Auslandsemester da geht es bei der Ankunft munter weiter mit Papierkram. Dokumente für die Unterkunft im Wohnheim (alle auf französisch) müssen ausgefüllt und unterschrieben werden, Unterlagen für das akademische Auslandsamt bei der Partneruni eingereicht werden, eine französische Hausratsversicherung abgeschlossen werden. Für den Zugang zum WLAN durfte ich gleich zu Beginn meine Französischkenntnisse am Telefon bei einer Kundenhotline austesten. Dann benötigt man jede Menge Krimskrams, denn im Wohnheim gibt es wirklich rein gar nichts. Nicht nur beim Trip zu IKEA lässt man in der ersten Zeit viel Geld liegen. Töpfe, Putzsachen, Mülleimer und am allerwichtigsten: Kaffeekanne! müssen erst noch besorgt werden. Auch die erste Miete oder Kaution, die noch aussteht, muss bezahlt werden. Viele kaufen eine Monatskarte für den öffentlichen Verkehr, aber ich habe mir hier in Grenoble erstmal ein Fahrrad gemietet, für das man unter 25 Jahren nur 36€ für vier Monate zahlt. In Grenoble empfehle ich es wärmstens, ein Fahrrad zu haben, denn die Stadt ist nicht nur sehr fahrradfreundlich konzipiert, sondern paradoxerweise auch die flachste Stadt Frankreichs, obwohl sie umgeben von hohen Bergen liegt.
Grenoble:
Die Stadt ist wunderschön, man sieht steil aufsteigende Bergwände zu allen Seiten der Stadt. Die Innenstadt hat einen historischen Stadtkern und ist sehr gemütlich. Es gibt Cafés und Kneipen zuhauf. Das Ufer der Isère (Fluss durch Grenoble), sieht mit seinen bunten Häuschen fast aus wie das Donauufer in Passau. Vier kugelrunde Gondeln bringen Besucher zur Bastille, einer alten Festung auf einer Anhöhe, von der man einen atemberaubenden Blick über die Stadt hat. Auch gibt es unzählige Ausflugsziele um die Stadt herum, unter anderem türkisene Bergseen und Gipfel, die erklommen werden wollen. Ein Kulturschock ist das Leben hier nicht für mich, ich bin allerdings auch nur vier Stunden entfernt von hier aufgewachsen. Die Franzosen sind meist freundlich und geduldig mit meinen Sprachkenntnissen. Ich empfehle aber, hier französisch statt englisch zu sprechen. Die jüngere Generation spricht zwar schon deutlich besser englisch, aber trotzdem ist das französische Schulsystem nicht darauf ausgelegt, den Schülern Kommunikationskompetenzen zu vermitteln. Mein Tipp: probiert euch in kleinen Alltagssituationen aus, bestellt einen Kaffee auf der Fremdsprache und tastet euch dann zu schwierigeren Situationen vor. So kann man langsam mit der Sprache warm werden und ein Selbstbewusstsein entwickeln.
Uni:
Die Student*innen der SciencesPo stellen in dieser sprachlichen Hinsicht eine Ausnahme dar, denn diese müssen alle im zweiten Unijahr ins Ausland. Konsequenz: Die Student*innen aus dem dritten Jahr sind sehr offen, hilfsbereit und sprechen gut englisch bzw. auch andere Fremdsprachen. Ich habe das Gefühl, dass an der SciencesPo viele weltoffene, schlaue und politisch interessierte junge Menschen studieren. Auch eine linksliberale, grüne Tendenz lässt sich erahnen; es gibt einige politische, feministische und umweltfokussierte Hochschulgruppen. Das Engagement in solchen Gruppen oder in einem Sportteam neben der Uni ist zwar nicht verpflichtend, wird aber erwartet. Meiner Erfahrung nach sind die Studierenden bei diesem Engagement trotzdem Feuer und Flamme. Es gibt neben den politischen und aktivistischen Gruppierungen Sportteams für viele Sportarten, eine Band, LGBTQ-Gruppen, Kreative und vieles mehr. Kein Wunder also, dass jede*r dort eine Nische findet, für die man sich begeistern kann.
Als ich mich bei der Recherche durch die Webseiten der Partner-Unis geklickt habe, fiel meine Entscheidung zugunsten von Grenoble am Ende wegen der schönen Stadt und den Bergen. Was mir hier erst klar geworden ist: dieses Politikinstitut ist mit allen Wassern gewaschen. Die UGA gehört zu den 100 besten Unis weltweit (Shanghai-Ranking) und das Politikinstitut nimmt nur etwa 10% der Bewerber an. Die Mitarbeiter, die für die ausländischen Studierenden zuständig sind, sind so freundlich und beantworten alle Emails und Fragen in kürzester Zeit, ausführlich und mit vollstem Verständnis. Da habe ich an anderen Stellen im Erasmus-Prozess sehr viel weniger Unterstützung erfahren. Fazit: Ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben.
Erasmus-Leben
Als ich hier ankam kannte ich niemanden, alles was ich hatte, war die Nummer eines Freundes einer Freundin, der auch in Grenoble sein Erasmus verbringt. Aber das war schon genug. An meinem zweiten Abend wurde ich zu einer Party eingeladen, bei der ich viele andere Internationals kennengelernt habe und mich gleich gut amüsiert habe. Außerdem kann man Facebook- und Whatsapp-Gruppen von Erasmusstudierenden beitreten, in denen Infos ausgetauscht, Tipps gegeben und Treffen organisiert werden. Das lohnt sich vor allem anfangs, um einen Überblick zu bekommen. Ich muss gestehen, nach einer Zeit nerven die vielen Nachrichten ziemlich. In Grenoble gibt es eine Organisation namens Integre, die Wanderungen, einen Pub Crawl und andere Unternehmungen für Neuankömmlinge organisieren. Als dann die Einführungsveranstaltungen der Uni losgingen habe ich auch dort viele Internationals kennengelernt. Man geht zusammen Mittag essen und Kaffee trinken. Im Französisch Intensivkurs, den wir die ersten zwei Wochen hatten, haben sich dann die ersten Grüppchen und Freundschaften gebildet, an den freien Tage haben wir Ausflüge unternommen, zum Beispiel in das malerische Städtchen Annecy, das direkt am See liegt. Ich lebe momentan in einer ziemlichen Erasmus-Bubble, denn die meisten Veranstaltungen richten sich bis jetzt nur an internationale Studierende. Ich spreche dadurch zwar mehr englisch, spanisch und deutsch als französisch, aber auch das ist mir schon eine willkommene Abwechslung zur Heimat. Verschiedene Hochschulgruppen haben Stadtführungen für uns organisiert, Kennenlernpicknicks mit den Erstsemestern und auch einige Partys. Und das war der Anfang vom Ende.
Corona
Als ich ankam, hatte ich das Gefühl, die Corona-Regeln seien hier strenger als in Passau. Man muss seine Maske nicht nur beim Einkaufen und im öffentlichen Verkehr tragen, sondern auch im Stadtzentrum, auf dem gesamten Campus (auf dem ich im Wohnheim auch lebe) und während des Unterrichts. Bei Veranstaltungen und im Unterricht wurde immer ein Sitzplatz freigelassen und auf dem Campus wird Handdesinfektionsmittel an alle verteilt. Das ist alles sehr löblich, nur leider ziemlich wertlos, wenn sich jeden Abend Studierende aus aller Welt in Parks oder Wohnheimen in großen Gruppen treffen, trinken und feiern. Man lernt viele neue Leute kennen, mischt sich durch, tauscht sich aus. Den Vogel abgeschossen haben dann zwei Ersti-Feiern von Hochschulgruppen der SciencesPo, bei denen es einen Dancefloor und ein Beerpong-Turnier gab. Danach ging es einigen nicht so gut, jedoch sind die Verdachtsfälle hier schon so weit angestiegen, dass es quasi unmöglich ist, sich testen zu lassen. Eine Studentin aus meinem Französischkurs ist nach Deutschland zurückgefahren, um einen Test zu bekommen. Das Ergebnis: positiv. Weil ich und viele andere aus meinem Umfeld engen persönlichen Kontakt zu ihr hatten müssen wir für 14 Tage in Quarantäne. Und das ist auch gut so, denn viele werden krank, bekommen Fieber und verlieren ihren Geruchssinn. Die Quarantäne bedeutet für uns, dass wir die erste richtige Uniwoche mit Kursen und Veranstaltungen verpassen werden. Das ist zwar nervig, aber wohl sinnvoll. Wie haben auch kein Mitleid verdient, denn schließlich wussten wir über das Risiko Bescheid, wir haben uns verantwortungslos verhalten und tragen jetzt eben die Konsequenzen davon. Nur leider befürchte ich, diese Maßnahme sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Keiner von uns bekommt einen Termin für einen Test und es geht vielen anderen genauso. Das heißt, dass wahrscheinlich viele Infizierte nichts davon wissen und das Virus immer weiterverbreiten. Frankreich meldet jeden Tag so viele Neuinfizierte wie noch nie zuvor, die Zahlen vom März und April sind weit überschritten. Irgendwie erwarte ich seit Tagen die Gegenmaßnahmen, ein Versammlungsverbot oder die Nachricht, dass die Uni doch online stattfindet. Aber bis jetzt kam nichts.
Spannend bleibt auf jeden Fall, wie es hier weitergeht. Kommt ein neuer Lockdown? Kommen strenge Maßnahmen? Unter welchen Umständen würde ich vielleicht doch zurück nach Passau gehen für das Wintersemester? Ich habe mich für diesen Fall auch schon umgehört, wer von meinen Freunden mich befristet aufnehmen könnte. Wird vielleicht sogar das Programm beendet und ich werde nach Hause geschickt? All das ist momentan im Bereich des Möglichen und die Unsicherheit über dieses Semester ist mein ständiger Begleiter. Ich hoffe aber inständig, dass ich hierbleiben kann, denn ich habe tolle Menschen kennengelernt und noch eine lange to-do Liste was ich noch sehen und erleben möchte!
Fotos: Lisa Bartelmus