Mein Atem beschlägt die Scheibe. Ein kleiner Hauch. Die winzigen Wassertropfen kondensieren. Sie bilden einen unförmigen Kreis aus Dunst. Ich strecke meine Hand aus. Mit der Fingerkuppe male ich einen wackeligen Strich durch den Kreis. Die Scheibe ist kalt. Mein Finger streicht über die glatte Oberfläche. Ein zweiter Strich. Dann noch einer. Und noch einer. Schnell ziehe ich meine Hand weg. Zufrieden beobachte ich mein Kunstwerk: eine Schneeflocke. Einmal blinzeln. Zweimal, dreimal blinzeln. Schon verblasst das Bild. Von außen nach innen frisst die Wärme den Kreis aus kondensiertem Wasser auf. Sie hinterlässt einen gefrästen Rand. Gemächlich bahnt sie sich ihren Weg zum Inneren der Schneeflocke. Sie verschwindet. Meine Augen fokussieren wieder in die Ferne, die draußen vorbeirauscht. Keine Schneeflocken. Kein Weiß. Ich wende mich von der Fensterscheibe ab. Kopfschüttelnd muss ich über mich selbst schmunzeln. Letztes Jahr habe ich mir so Weiße Weihnachten in den Zug gezaubert. Ich drücke meine weihnachtlich rote Maske mit den goldenen Sternchen noch enger an meinem Nasenrücken fest. Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr ist alles anders. Meine Mundwinkel senken sich wieder. Stille um mich herum. In diesem Waggon bin ich die Einzige. Vor einem Jahr war der ICE brechend voll. Jeder Sitzplatz belegt. Koffer versperrten den Mittelgang. Dieses Mal kann ich sogar meine Beine ausstrecken. Ich lehne mich zurück und seufze. Noch 2 Stunden. Die nicht gerade winterliche Landschaft zieht an mir vorbei. Ich schließe meine Augen und versuche die ruhige Fahrt zu genießen.
Ich öffne meine Augen wieder. Langsam löse ich mich aus der Umarmung meiner Mutter. Wie selten Umarmungen doch geworden sind. Und wie sehr man solche Berührungen doch zu schätzen gelernt hat. Knapp zwei Monate habe ich meine Eltern nur durch den kalten Bildschirm meines Smartphones gesehen. Die Wärme der Nähe fehlte. Doch die fehlt bereits seit Beginn diesen Jahres. Noch 9 Tage. In 9 Tagen hat dieses Jahr endlich ein Ende. 2021 bringt neue Hoffnungen auf Goldene Zwanziger mit sich. Das Einzige, das in diesen Tagen golden ist, sind die Christbaumkugeln, die von den Tannenzweigen baumeln und mit den elektrischen Kerzen um die Wette funkeln. Ein Glühwein zur Begrüßung. Und langsam breitet sich auch bei mir Weihnachtsstimmung aus. Ein Lebkuchen-Rentier hier, ein Tannenbaum-Plätzchen da. Ich komme an. Für einen Moment halte ich die Luft an.
Ich puste die angehaltene Luft aus. Der Kerzendocht vor mir glimmt ein letztes Mal auf. Kleine Rauchschwaden steigen auf. Der Qualm steigt mir in die Nase. Ohne Maske sind Gerüche doch intensiver. Ich schalte die Lichterkette am Christbaum aus. Mit den künstlichen Kerzen erlischt auch das goldene Glitzern des Baumschmucks. Heute Abend schicken wir keine Gäste nach Hause. An diesem Heiligabend gibt es nur meine Eltern und mich. Keine Verwandten, mit denen wir Geschenke austauschen und gemeinsam bei Glühwein und Plätzchen die letzten Stunden des Abends ausklingen lassen. Überraschend ruhig. Überraschend besinnlich. Schön, auf eine andere Art und Weise. Schön, auf die um 20-Uhr-schon-auf-dem-Sofa-sitzen-Art. Anders. Schön anders. Anders schön. Weihnachten ist auch dieses Jahr vorbei. Ohne Schnee, ohne große Familienfeier, mit Abstand. Mit Abstand ist es ein Jahr, in dem ich vieles neu zu schätzen gelernt habe. Das Glück der Gesundheit, die Wärme von Nähe, die Bedeutung der Liebsten. Ich halte meinen Atem an und schließe die Augen.