Rèsi Lucetti hat auf über 60 Demonstrationen der „Querdenken“-Bewegung Einblick in die unberechenbarste Protestbewegung unserer Zeit erhalten – und sich dabei selbst in Gefahr gebracht.
Man muss gar nicht erst versuchen, etwas über ihn im Internet herauszufinden. Der einzige Anhaltspunkt ist sein anonymes Twitter-Profil, dem über 13 Tausend Menschen folgen. Dort hat er seine Profession angegeben, dass er „sehr weit links“ ist, den FC Sankt Pauli mag und die Pronomen „er/he“ verwendet. Er twittert täglich: hauptsächlich Politisches, aber auch mal Fotos von Bergtouren und Craft Beer.
Als ich mich auf den Weg mache, habe ich keine Ahnung, wie der Mensch, mit dem ich mich gleich treffen werde in Wirklichkeit heißt, wie er aussieht und geschweige denn, wie er so drauf ist. Rèsi Lucetti ist das Pseudonym, unter dem der 28-jährige seit 2016 von Passau aus als freier Fotojournalist arbeitet. Die Demos und Protestaktionen, die er fotografiert, finden gewöhnlich in größeren Städten statt, außerhalb der Pandemie auch europaweit.
Seit in Passau Aktivist:innen das Klimacamp errichtet haben, ist er auch hier mit der Kamera unterwegs. So wie heute bei unserem Treffpunkt, einer Kundgebung im Klostergarten gegen die geplante Nordtangente. Die Zusammenarbeit mit den Klima-Aktivist:innen ist für ihn in erster Linie eine Sache der Solidarität. Aber „ich hatte auch Glück, dass in Passau mal eine Geschichte ist, bei der ich überregional viele Bilder verkauft habe. Einfach, weil die Polizei das SEK geschickt hat, weil zwei ‚Hippies‘ in drei Metern Höhe auf einem Baum sitzen.“
Seine regulären Einsätze sucht er gewöhnlich danach aus, ob es dort „Action gibt“, wie er sagt. „Natürlich verkaufen sich Bilder am besten, wo es Ausschreitungen gibt, Pyrotechnik, Polizeieinsätze.“ Spezialisiert hat sich Rèsi auf soziale Proteste aller Art, sowohl aus dem extrem rechten als auch dem linken Spektrum. „Ich habe vorher ein bisschen querfeldein gearbeitet, ich habe Neonazi-Demos gemacht, Klimaproteste begleitet und auch bürgerliche Sachen. In der Pandemie ist dann alles weggefallen – bis auf Querdenken.“
Von seinen früheren Erfahrungen mit Rechtsextremen kann er bei der anfangs noch namenlosen Bewegung profitieren. „Wir Journalist:innen aus der Szene haben schon von vornherein gesagt, dass da Leute mitlaufen, die wir aus dem rechten Milieu kennen oder es Schnittpunkte gibt, was sich schnell bewahrheitet hat.“ Ansonsten ist vieles anders bei den Protesten der Coronaleugner:innen. Der Stress, sagt Rèsi, gehe oft schon im Vorhinein los: „In den Telegram-Gruppen wurden schon Portraitbilder von mir geteilt mit expliziten Mordaufrufen und der Aufforderung, mich zu verprügeln.“
Er kenne es bereits aus dem rechtsextremen Spektrum, dass im Vorfeld getuschelt werde und er auf Demos auch mal angerempelt wird. „Aber es war selbst von dort entspannt zu berichten. Wenn ich eine Neonazi-Demo habe mit 300 Menschen, die insgesamt zu über 800 Jahren Bewährungsstrafe verurteilt sind, dann weiß ich, dass von jedem eine Gefahr ausgeht.“ Bei „Querdenken“ sei das nicht so leicht zu unterscheiden.
Als Beispiel beschreibt er „eine weiblich gelesene Person, 40 Jahre alt, mit bunter Kleidung und Blümchen in den Haaren, die an dir vorbeiläuft, ‚Lügenpresse‘ schreit und dir ihre Handtasche über den Kopf ziehen will.“ Es sei schwer geworden die Menschen bei den Demos einzuteilen in „bürgerliche Klientel – eher ungefährlich und Neonazis – eher gefährlich. Das funktioniert bei Querdenken nicht mehr.“ Von allen sozialen Protesten beschreibt er die Bewegung als „das Medienfeindlichste, das ich jemals kennengelernt habe.“
Dass aus dieser Medienfeindlichkeit reale Gefahr werden kann, hat Rèsi vergangenen November in Leipzig erfahren. Bereits im Vorfeld der Demonstration hätten er und andere Journalist:innen darauf hingewiesen, dass es eine Mobilisierung von Neonazis und ostdeutschen Hooligans geben würde. Die Polizei wiegelte ab, sie wisse von der Gefahrenlage.
Neonazis haben uns mit Steinen durch die Stadt verfolgt
Rèsi erzählt, wie die Demo eskaliert sei: „Wir wurden von den Hooligans gejagt. Wir waren zehn, fünfzehn Medienvertreter:innen, hinter uns sind Neonazis und Hooligans gerannt, die Steine und Flaschen auf uns geworfen haben. Die Polizei hat dann eine Absperrung gemacht, aber uns nicht durchgelassen. Wir mussten über die Polizeiautos springen, weil die Leute uns verkloppen wollten. Von außen sind tausende Demonstrant:innen zusätzlich in unsere Richtung gedrängt, sodass die Polizei irgendwann nachgeben musste. Sie hat uns aufgefordert, nicht mehr zu fotografieren, weil sie nicht mehr für unsere Sicherheit garantieren könnte. Die Hoffnung war, dass die Menschen an uns vorbei strömen. Wenn sie aber auf uns geströmt wären, dann hätten wir ein gewaltiges Problem gehabt.“
Im Nachhinein, sagt er, habe er sich in dieser Situation „ganz schön im Stich gelassen gefühlt.“ Auch wenn dieser Tag eine Ausnahmesituation war, erzählt er immer wieder davon, wie er auf Einsätzen Probleme hatte, ungestört seine Arbeit zu machen. Zum einen liege das daran, dass die Polizei die Gefahrenlage oft unterschätzt habe und zu wenig präsent war. Zum Beispiel in Leipzig und gerade in der Anfangszeit auch auf kleineren Demos.
Dann gibt es noch die vielen regionalen Proteste. „Querdenken ist in jedes Kaff gegangen, wo es seit Ewigkeiten keine Demo oder Kundgebung mehr gab und die Polizei keine Ahnung von Presserecht hat.“ Einmal, erzählt er, hätten Teilnehmer:innen sich beschwert, dass er fotografiert. Die Polizei habe ihn dann aufgefordert, damit aufzuhören, obwohl genau das ja seine Aufgabe sei. Ein anderes Mal wurde er ohne rechtliche Grundlage vom Platz verwiesen, weil der Anmelder einer Demonstration ihn „nicht dahaben wollte.“
Mit der Polizei hat er auch anderweitig zu tun, wenn er Anzeigen gegen „Querdenker:innen“ aufgibt, etwa weil sie Portraitfotos von ihm veröffentlicht haben und sich damit strafbar machen. Für ihn ist das eine Begleiterscheinung seines Jobs, „ich mache das so nebenbei mit dem Papierkram.“ Tatsächlich hätten schon zwei, drei Leute nach einer Anzeige eine Geldstrafe zahlen müssen. Für ihn ein schöner Nebeneffekt, denn „damit habe ich mir eine neue Kamera finanziert.“
Rèsi macht seinen Job aus Überzeugung. Bis 2016 war er selbst in der Antifa-Szene aktiv. Sein Metier ermöglicht ihm, seine politische Haltung mit dem Beruflichen zu verbinden: „Ich finde halt Nazis scheiße, ich möchte mich gegen sie wehren und so kann ich das tun, ohne Stress mit der Polizei zu bekommen.“ Er will seine Arbeit klar von Aktivismus abgegrenzt wissen, aber er hat auch seine Prinzipien. „Ich verkaufe zum Beispiel keine Fotos an den Axel Springer Verlag, obwohl sie mich ständig anfragen. Das hat für mich nichts mit journalistischen Standards zu tun.“
Er betont, dass es ihm vor allem im linken und Klimakontext wichtig ist, sich solidarisch mit dem Menschen zu zeigen. „Ich will nicht dazu beitragen, dass jemand Ärger bekommt durch ein Foto von mir. Außer bei Rechten, da will ich das, da lege ich es auch darauf an, da ist genau das mein Ziel.“
Diese Freiheiten kann er sich auch bewahren, weil er unabhängig von einem Medium arbeitet. „Ich liebe freies Arbeiten, mir macht das extrem Spaß. Ich bin jetzt gerade an dem Punkt, wo ich Erfolg damit habe. Wie lange das anhält und was danach kommt, keine Ahnung.“ Die Altersvorsorge ist ein Thema, an das er gerade eher weniger denke. “Wenn ich so weitermache wie jetzt, werde ich als Rentner verarmt sein, aber ein schönes Leben gehabt haben.“
Reich wird er durch „Querdenken“ wohl nicht mehr werden. „Ich glaube nicht, dass es die Bewegung noch lange macht“, resümiert er. Viele große Köpfe der Bewegung hätten sich schon mit Spendengeldern ins Ausland abgesetzt. Sowieso könne diese Masse auf Dauer gar nicht funktionieren: „Du hast auf der einen Seite hardcore stramme Neonazis, dann hast du verschwörungsmythische Menschen, einfach nur ‚Hippies‘, abgedrehte Altlinke. Eine völlig wirre Mischung.“
Eines seiner Bilder zeigt die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Bewegung besonders eindrücklich. „Das Foto ist in Leipzig entstanden, an dem Tag als auch die Ausschreitungen stattfanden. Im Hintergrund randalieren vermummte Neonazis und im Vordergrund stehen ‚Hippies‘ mit einer Peace-Flagge und Herzchenluftballons. Es ist einfach absurd.“
Wenn das alles vorbei ist, mache ich eine Flasche Sekt auf
Rèsi glaubt, „in drei, vier Jahren bei drei, vier Bier mit einem Lächeln auf all das schauen zu können. Weil es einerseits gefährlich ist und jede Menge Bullshit passiert ist. Aber andererseits gab es auch noch nie so etwas Durchgeknalltes.“ Er hofft, dass bald alles zu Ende ist, obwohl es „mal ganz dumm gesagt finanziell besser für uns Journalist:innen wäre, wenn es Querdenken noch ein halbes Jahr gäbe.“
Gibt es sonst etwas, worauf er sich nach dem Ende der Pandemie freut? „Auf Massenaktionen im Klimaschutzkontext zum Beispiel. Wenn ich nicht mit 50 Tausend komplett Abgedrehten auf dem Platz stehe, sondern mit 50 Tausend bei Fridays for Future. Und mal wieder auf ein Konzert oder auf ein Festival gehen, da habe ich richtig Bock drauf.“