Im großen Raum des Gemeindesaals stehen zusammengerückte Tische, um sie herum reihen sich Stühle, Kerzen brennen, in der Küche werden hastig die letzten Vorbereitungen getroffen. Auf einigen der Tische liegen liebevoll bemalte A3-Blätter. Weihnachten in Syrien, Weihnachten in Eritrea oder Weihnachten in Nigeria steht da in buntgedruckten Filzstiftbuchstaben auf den Plakaten geschrieben. Es ist eine fröhlich-aufgeregte Stimmung, die den Gemeindesaal an diesem Dezemberabend erfüllt. An diesem Donnerstag feiert die Evangelische Studierendengemeinde gemeinsam mit Geflüchteten und Ehrenamtlichen die jährliche Weihnachtsfeier.
Viele der Gäste kommen aus Afghanistan, einige aus der Ukraine, Irak oder benachbarten Ländern. Sie alle sprechen verschiedene Sprachen und gehören unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften an. Sie alle feiern Weihnachten ganz unterschiedlich. Es ist das gemeinsame Schicksal der Flucht und das Bedürfnis nach Nähe und Gemeinschaft, was alle verbindet und an diesem Abend zusammenkommen lässt. Es dauert noch einige Minuten, dann füllt sich der Saal, die Gäste nehmen langsam Platz, das Weihnachtsfest beginnt.
An einem der festlich dekorierten Tische sitzt Pavlo und schaut sich verlegen um. Es ist sein erstes Weihnachtsfest in Deutschland, erzählt der Mitdreißiger in gebrochenem Englisch.
Aufgewachsen ist der großgewachsene Mann mit den strahlend-blauen Augen in Winnyzja, einer Großstadt im Zentrum der Ukraine. Dort hatte er nach seinem Studium an der Technischen Universität als Ingenieur gearbeitet. Dann begann der Krieg und mit ihm auch die Einberufung wehrpflichtiger Männer für das ukrainische Militär. Pavlo ist geflohen – erst nach Aidenbach, bis er dann vor einem Monat nach Passau zu seiner vier Jahre älteren Schwester zog. Unterstützung erhielt er in den letzten vier Monaten besonders von einem Ehrenamtlichen, den Pavlo inzwischen als seinen „very best friend“ bezeichnet. Er war es, der Pavlo dabei half, eine Wohnung zu finden und in Deutschland Fuß zu fassen. Den Deutschkurs der Evangelischen Studierendengemeinde Passau fand seine Schwester dann vor wenigen Wochen in einer Telegram-Gruppe. Für Pavlo ein absoluter Glücksfall.
Wie dankbar Pavlo für die Unterstützung ist, wird spätestens deutlich, als er am Ende des Abends auf sein Handy zeigt, auf dem er eine Danksagung in seinen Google Übersetzer getippt hat und darum bittet, diese in den Artikel aufzunehmen.
Freundschaft ohne Grenzen?
Wenn es um seine Flucht und die Ankunft in Deutschland geht, spricht Pavlo leise und schaut bedrückt. Er fragt mehrmals nach, wo der Artikel veröffentlicht wird, wählt seine Worte sehr bedacht. Anonym bleiben möchte er jedoch nicht.
Meine Freunde wissen nicht, dass ich hier bin. Dort hassen sie die, die fliehen, ohne zu kämpfen.
Nach Winnyzja zurückzugehen, kann er sich derzeit nicht vorstellen. „Im Moment ist es nicht möglich zurückzugehen und ich lebe gern hier. Meine Schwester ist hier und sie ist meine Familie“, erzählt er gefasst.
Ein Löffelchen Unsterblichkeit
Nach dem Weihnachtsessen, einem veganen Curry, erzählt Pavlo von seinen Ausflügen mit der Deutschen Bahn nach Landshut und Berlin. Zwischen seinen Erzählungen bittet er immer wieder um eine kurze Pause, tippt seine Gedanken in den Übersetzer und sucht nach den richtigen Worten.
Er lächelt schüchtern, als er von seiner großen Leidenschaft der Fotografie erzählt.
Ich mag die Altstadt von Passau und die vielen Menschen. Dort ist diese Energie, dieses Leben und diese vielen lächelnden Gesichter. Ich bin ein Fotograf, ich liebe glückliche Menschen.
Die Freude in den Gesichtern seiner Mitmenschen möchte Pavlo wie jedes Jahr auch zu diesem Weihnachtsfest bildlich einfangen. „Ich nehme Festtagsgottesdienste in der Kirche auf und wie alle gemeinsam feiern. Das ist immer meine eigene kleine Tradition.“
Wie in jedem Jahr wird Pavlo am russisch-orthodoxen Weihnachtsabend zwölf ukrainische Gerichte, symbolisch für die zwölf Apostel, zubereiten. Auch Kutia, eine Art Porridge mit Erdnüssen und Honig wird es geben. Die symbolische Bedeutung des im Gericht enthaltenen Getreides, welches jedes Jahr aufs Neue erblüht und daher als Zeichen der Unsterblichkeit gilt, hinterlässt besonders in Zeiten des Krieges einen bleibenden Eindruck.
Gleiche Gerichte, gleiche Traditionen und doch ist alles anders. Während seine Freunde im Militär gegen die Zerstörung ihrer Heimat kämpfen, wird Pavlo gemeinsam mit seiner Schwester Weihnachten feiern – etwa 1.500 km entfernt, in Frieden.
Auf die Frage, ob er manchmal Angst vor der ungewissen Zukunft habe, lächelt Pavlo und es ist eines der wenigen Lächeln, das man an diesem Abend von ihm sieht.
Ich bin gesund, habe zwei Arme und zwei Beine. Ich bin dankbar, am Leben zu sein. Also warum sollte ich Angst haben?
Zehn Jahre voller Hoffnung
Angst vor der Zukunft hat auch Rasool nicht. Der junge Mann aus Afghanistan sitzt an diesem Abend an einem der benachbarten Tische, neben ihm sechs weitere junge Männer und eine Frau. Rasool sieht müde aus, er trägt eine blaue Mütze und unterhält sich mit seinen Sitznachbarn, Freunden aus seinem Wohnheim, wie er später erzählt. Ab und zu ist es still am Tisch. Es gibt Kinderpunsch und selbstgebackene Plätzchen.
Nach meiner Ankunft in Deutschland waren die meisten Menschen nett zu mir. Sie haben sich mit mir unterhalten und mich oft ermutigt, weiterzumachen, in die Schule zu gehen und zu lernen. Mit der Zeit habe ich Leute kennengelernt. Ich habe vieles gelernt und habe nach der Schule angefangen, privat als Schreiner zu arbeiten.
Er floh im Jugendalter aus seiner Heimat, seit etwa sieben Jahren lebt er nun in Deutschland.
Während Rasool mit ruhiger Stimme von seiner beschwerlichen Flucht durch zahlreiche Länder, der Festnahme von der griechischen Küstenwache und schließlich seiner Ankunft in Deutschland erzählt, hören ihm die anderen am Tisch gespannt zu. Unter ihnen: sein jüngerer Bruder Esmat, der seit diesem Herbst einen der Deutschkurse besucht.
Fast zehn Jahre haben sich die Brüder seit der Flucht Rasools nicht gesehen – bis auch Esmat floh und schließlich nach München kam. Trotz der vielen Jahre ohne einander wirkt die Verbindung zwischen den Geschwistern sehr vertraut und innig.
„Am liebsten bin ich in der Unterkunft. Dort haben mein Bruder und ich ein Zimmer. Gemeinsam mit unseren Freunden machen wir viel Sport und haben uns das Boxen beigebracht. Ich sage ihm immer, für seine Zukunft muss er sich gut benehmen, er darf keinen Blödsinn machen und muss immer etwas lernen“, sagt Rasool fröhlich und Esmat schmunzelt.
Gute Wünsche, große Träume
Die Feiertage werden die Brüder dieses Jahr erstmals wieder zusammen verbringen. Gemeinsam mit ihren muslimischen Freund:innen aus dem Wohnheim werden sie Ramadan und Eid al-Fitr, das große Fastenbrechen, feiern.
„Wir feiern so etwas ähnliches wie Weihnachten. Nur haben wir ein kleines Fest, ungefähr im März oder April und etwa vierzehn Tage später ein großes Fest. Wir bekommen dann neue Klamotten und gehen beten in die Moschee. Wir sehen Verwandte und gehen zu den Familien, bei denen jemand gestorben ist. Dort wünschen wir ihnen etwas Gutes, damit sie wieder glücklich werden. Es ist ein schwieriger Weg, aber Sterben gehört zum Leben dazu. Man sollte sich darüber nicht zu lange Sorgen machen.“
Trotz seiner Flucht und der langen Zeit in Deutschland, sind ihm die Traditionen seiner Heimat geblieben. Einige der deutschen Weihnachtstraditionen haben jedoch nachhaltig Eindruck bei Rasool hinterlassen.
Meine Traditionen haben sich nicht groß verändert, aber durch die Schule habe ich ein paar deutsche Weihnachtstraditionen, wie Plätzchen oder Punsch kennengelernt.
Ob und wann sie mit ihren übrigen Geschwister, insgesamt sechs Schwestern und drei Brüdern wieder gemeinsam feiern werden, wissen sie nicht. Doch die Hoffnung besteht weiterhin. Zwei seiner Brüder hat Rasool bereits in ihrer neuen Heimat in Österreich besucht.
Bei seinem Wunsch für die Zukunft muss Rasool nicht lange überlegen:
Mein größter Traum ist Sicherheit. Mein nächster Traum ist es, Schauspieler und Sänger zu sein.
Am Ende des Abends machen wir Fotos für den Artikel – mit und ohne Mütze, sitzend und stehend. In der Ecke des Raumes steht Pavlo und beobachtet uns. Nach ein paar Minuten kommt er an den Tisch. Er übernimmt die Kamera, gibt den anderen kurze Anweisungen und schießt ein paar Bilder.
An diesem Dezemberabend inmitten von Festlichkeiten fotografiert Pavlo lächelnde Gesichter und es ist (beinahe) alles wie immer.