So manch eine:r möchte aufgrund der aktuellen politischen Lage und der anstehenden Bundestagswahlen am liebsten den Kopf in den Sand stecken. Niederbayerische Wissenschaftler:innen haben genau das getan und dabei in Rotthalmünster im Landkreis Passau eine neue Regenwurmart entdeckt. Der Helodrilus bavaricus ist weltweit einzigartig und, wie der Name verrät, vermutlich ausschließlich in einem kleinen Teil Südbayerns verbreitet. Mitten im Wahlkampf gibt es nur wenige Themen, die davon unberührt bleiben. Was, wenn sogar Regenwürmer politisch relevant wären?
Hinweis: Die Einschätzungen zu den Haltungen der Parteien hinsichtlich des Fundes der neuen Regenwurmart basieren auf Annahmen, die aus den jeweiligen aktuellen Parteiprogrammen abgeleitet wurden.
Mehr als neun von zehn Regenwürmern sagen: Ich lebe gern in Bayern
Zu schön um wahr zu sein: „In Bayern lebt es sich einfach besser“ lautet der Titel des Regierungsprogramms der Christlich-Sozialen Union (CSU) 2023-2028. Diese Einschätzung scheint Helodrilus bavaricus zu teilen. „Also ein echter Lokalpatriot […] und damit doch eigentlich das perfekte Wappentier für den Freistaat Bayern, oder nicht, Herr Söder?“, fragt Podcast-Host Jannis Carmesin in Was Jetzt?. Nicht nur wurde der Wurm in Bayern entdeckt, sondern auch noch auf dem Acker eines Landwirts – ein Volltreffer für die CSU. „Das Herz unseres Landes liegt vor allem in den landwirtschaftlich geprägten Räumen“, heißt es in ihrem Programm. Und überhaupt: Bayern sei bundesweiter Spitzenreiter in Sachen Umwelt- und Artenschutz. „Unsere Landwirte gehen verantwortlich mit ihrem Boden und unserer Umwelt um“, lobt die Partei. Ein Regenwurm als Maskottchen – zumindest für den Wahlkampf – scheint das gar nicht so abwegig.
Leistung und Anstrengung sollen sich lohnen – auch für Regenwürmer?
Das Wort „Regenwurm“ hat übrigens nichts mit Regen zu tun, sondern leitet sich von dem alten Begriff „reger Wurm“ ab: Die Tiere sind Spitzenfachkräfte in Sachen Bodenarchitektur. Da horcht wohl so manch ein Parteimitglied der Freien Demokraten (FDP) auf. „Weil wir wollen, dass sich Leistung und Anstrengung lohnen“, schreibt die FDP in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025. Ob sie der CSU das Maskottchen streitig machen würden, bleibt dennoch fraglich. Der Ansatz der Liberalen im Artenschutz lautet schließlich: „Populationsschutz statt Individuenschutz.“ So soll vermieden werden, „dass einzelne Sichtungen von einzelnen Individuen Bauvorhaben über lange Zeit gefährden, ohne dass ihre Art überhaupt gefährdet ist“. Wahrscheinlicher ist, dass die Partei ihren Fokus auf die Wissenschaft legen würde, die den Fund des Regenwurms überhaupt erst möglich gemacht hat. Wissenschaft, so die FDP, führe zu Innovation – und Innovation sei die Grundlage für Wohlstand. „Wir befinden uns auch in der Wissenschaft in einem neuen Systemwettbewerb“, heißt es außerdem. Und eines ist bekannt: Die FDP liebt Wettbewerbe und verliert äußerst ungern.
Und im Ackerboden heißt es: Wir gemeinsam gegen die da oben
Angesichts der Argumentationsweise der FDP dürfte die Linke wohl kaum still bleiben. „Die Grenzen des fossilen Kapitalismus sind erreicht: Trotzdem halten Konzerne an ihrer Wirtschaftsweise fest, um ihr Geschäftsmodell und ihre Profite zu schützen“, schreibt die Partei in ihrem Wahlprogramm. Denn die Logik des Kapitalismus kann auch ökologische Zusammenhänge vereinnahmen, um sie marktwirtschaftlich zu rechtfertigen. Das linke Lager würde argumentieren, dass doch der Kapitalismus die ökologische Krise erst ausgelöst habe. Er betrachte die Natur als bloße Ressource zur Profitmaximierung. Anstatt weiter auf dieses zerstörerische System zu setzen, fordert die Linke eine „soziale und ökologische Agrarwende“, die nicht die Interessen der großen Agrarkonzerne in den Mittelpunkt stellt, sondern jene der regionalen Landwirt:innen – so wie den Bauer, auf dessen Acker die Regenwurmart gefunden wurde. Während Konzerne Böden und Ökosysteme ausbeuteten, sei klar: Ohne eine „aktive staatliche Wirtschaftspolitik“ werde es keinen echten Wandel geben. Statt Gewinnmaximierung für wenige müsse der Schutz unserer Lebensgrundlagen im Zentrum stehen.
Wir als SPD, wir kämpfen um jeden Regenwurm
Bevor die Diskussionen über den Regenwurm hitzig werden, würde sich die SPD einschalten – schließlich gilt: „So schwierig die letzten Jahre auch gewesen sein mögen – immer, wenn es drauf ankam, war auf Bundeskanzler Olaf Scholz und die SPD Verlass.“ Wieviel Ironie in diesem Satz des am 11. Januar beschlossenen Regierungsprogramms steckt, kann wohl nur die Partei selbst beantworten. Doch in Sachen Regenwurm scheint die Argumentationskette klar: Die sozialen Dimensionen des Umweltschutzes dürften nicht außer Acht gelassen werden. „Mittlerweile wissen alle: Nachhaltigkeit und Klimaschutz kosten.“ Der Schutz von Böden und Artenvielfalt müsse so gestaltet werden, dass er Landwirt:innen in ihrer Arbeit unterstütze und ihnen eine faire Perspektive biete. In sozialdemokratischer Klimapolitik dürfe Artenschutz kein Luxusgut für Wohlhabende sein. So will die Partei „all jene stärker unterstützen, die die Ressourcen Boden, Wasser und Luft schonen.“
Nicht über die Regenwürmer reden, sondern mit ihnen
Die SPD fördert nachhaltige Landwirtschaft, ist hierbei aber sicher um einiges kompromissbereiter als die Grünen. Auch für Regenwürmer würde Robert Habeck zuversichtlich die Ärmel hochkrempeln: „Den Bundesnaturschutzfonds werden wir weiter stärken“, heißt es im Regierungsprogramm. Dass der bayerische Landwirt an dem bundesweiten Projekt FinAL (Förderung von Insekten in Agrarlandschaften) teilnimmt, würden die Grünen sicherlich besonders hervorheben. Und ja, Regenwürmer sind keine Insekten. Doch der Fokus des Landwirts richtet sich nicht nur auf diese, sondern auf nachhaltige Landwirtschaft ganz allgemein: Seit fünf Jahren bewirtschaftet er einen Acker mit Direktsaat, also ohne Bodenbearbeitung seit der letzten Ernte. Die Regenwürmer danken es ihm: Mit rund 600 Tieren pro Quadratmeter liegt der Wert auf seinem Acker deutlich über dem bayerischen Durchschnitt. Ein Paradebeispiel für den Erfolg von Nachhaltigkeitsprojekten auf Bundesebene. Denn für die Grünen wäre klar: Der Fund verdeutlicht, dass ihre Forderungen nach einer drastischen Reduktion von Pestiziden, einer ökologischen Flächenbewirtschaftung und einer konsequenten Förderung von Biodiversität nicht nur dringend, sondern auch wirksam sind.
Unsere Regenwürmer verdienen mehr!
Gut gedehnt geht das Bündnis Sahra Wagenknecht in einem politischen Spagat, den keine andere Partei wagt, in den Wahlkampf: Gesellschaftlich konservativ einerseits, sozial- und wirtschaftspolitisch links andererseits. In Umwelt- und Klimafragen positioniert sich die Partei laut einer Analyse von Wahl-O-Mat-Daten näher bei CDU/CSU und AfD als bei Grünen oder Linken. So würde das BSW, ähnlich wie die CSU, betonen, wie wichtig eine regionale, naturnahe Landwirtschaft sei, frei von der Dominanz internationaler Agrarkonzerne: „Wir wollen eine Agrarpolitik, die stärker national und regional ausgerichtet ist“, heißt es im Parteiprogramm. In ihrer Bürokratiekritik erinnert die Partei an die AfD, unterscheidet sich jedoch ideologisch: Die AfD sieht Bürokratie als Teil grüner Ideologie, während das Bündnis Sahra Wagenknecht vor allem kleine Betriebe und regionale Strukturen vor belastenden EU-Vorgaben schützen will: „Unnötige Bürokratie, die den Landwirten das Leben schwer macht, muss abgebaut werden.“ Für das Bündnis ist der Helodrilus bavaricus damit nicht nur ein Symbol für regionale Stärke, sondern auch ein Argument für eine von der EU entkoppelte Agrarpolitik. Also, liebe Regenwürmer: „Zweitstimme ist Sahra-Stimme“!
Mut zu Deutschland. Freie Regenwürmer, keine Untertanen
Und die Alternative für Deutschland (AfD)? Die würde den Regenwurm wohl instrumentalisieren, um den Klimawandel zu leugnen: „Das Klima wandelt sich, solange die Erde existiert. Die Klimaschutzpolitik beruht auf hypothetischen Klimamodellen basierend auf computergestützten Simulationen des IPCC (‚Weltklimarat‘)“, heißt es im Parteiprogramm. Wenn ein Eiszeitwurm also bis heute überlebt hat, dann könne es um das Klima doch nicht so schlecht stehen. Schließlich sei auch zu bedenken: „IPCC und deutsche Regierung unterschlagen die positive Wirkung des CO₂ auf das Pflanzenwachstum und die Welternährung. Je mehr es davon in der Atmosphäre gibt, umso kräftiger fällt das Pflanzenwachstum aus.“ Milliardeninvestitionen in die Klimabürokratie seien daher unnötig, denn die Natur entwickle sich von selbst. Der grüne Bürokratiewahn und überzogene Maßnahmen aus Brüssel müssten sofort gestoppt werden. Klare Worte zum Schluss: „Klimaschutzorganisationen werden nicht mehr unterstützt.“
Viele Brillen und eine große Aufgabe
Die Entdeckung eines Regenwurms ist zunächst eine schlichte Tatsache. Doch wie diese Tatsache gedeutet, verwendet oder gar verzerrt wird, liegt in der Macht der politischen Akteure und ihrer Deutungsmechanismen. Gerade im vorgezogenen Wahlkampf, der von mangelnder Vorbereitung und hektischem Aktionismus geprägt ist, werden selbst unscheinbare Ereignisse instrumentalisiert. In einer hochkomplexen Welt, in der Zusammenhänge oft nur schwer durchschaubar sind, führt das nicht selten zu Überforderung und Frustration – und treibt letztlich den Populismus voran.
Was in Wahlkampfreden, auf Plakaten oder in Programmen als Fakt präsentiert wird, ist selten neutral. Meist handelt es sich um gezielt ausgewählte Informationen, die interpretiert und in einen passenden Kontext gesetzt wurden, um politische Botschaften zu untermauern. Unterschiedliche politische Brillen lenken dabei den Fokus der Parteien auf das, was ihre Zielgruppen überzeugen soll. Das ist nicht verwerflich, sondern ein Kernbestandteil demokratischer Prozesse: In einer Demokratie ist es die Aufgabe der Parteien, die Wähler:innen von ihrer Sache zu überzeugen. Und schlussendlich muss der Wurm vor allem den Fischen schmecken, nicht den Angler:innen.
Die Bürgerschaft steht allerdings vor einer Herausforderung, die mit der schieren Menge an Informationen wächst: Fakten von Meinungen zu trennen, die Quellenlage kritisch zu hinterfragen, Kontexte zu verstehen und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Die Medienkompetenz der Einzelnen ist dabei ein zentraler Schlüssel. Doch wie realistisch ist es angesichts der Flut an Informationen, all diese Ansprüche zu erfüllen?
Der Wurm und die Wahl
Trotz allem gilt: Misstrauen gegenüber demokratischen Parteien oder eine generelle Politikverdrossenheit sind keine Lösung. Es bleibt entscheidend, Unwahrheiten klar zu benennen und den Wahlkampf mit einem gesunden Maß an Kritikfähigkeit und Menschenverstand zu verfolgen.
Die regionale Aufregung um die Entdeckung der neuen Regenwurmart dürfte noch vor der Wahl am 23. Februar abklingen – und der Helodrilus bavaricus wird sich wohl wieder in die Sicherheit seines Ackerbodens zurückziehen. Ob der Wurm nun im Boden oder der deutschen Demokratie ist und welche Partei ihn überzeugt hätte, bleibt ein Rätsel.
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