Seit fünf Wochen schon bin ich jetzt in Grenoble und die Zeit vergeht wie im Flug. Der Gedanke, dass in gut zwei Monaten meine Zeit hier schon vorüber ist, stimmt mich ganz nervös, denn ich habe noch eine riesige To-Do-Liste mit Dingen, die ich noch tun und sehen möchte. Aber aufgrund der Corona-Einschränkungen und einer Knieverletzung werden sich manche Punkte auf dieser Liste leider auch erübrigen.
Es ist ein spannendes Phänomen, dass wenn wir an einen Ort reisen, nicht erfüllt und glücklich zurückkehren, uns diesen Wunsch erfüllt zu haben. Stattdessen wollen wir mehr, wir hören von umliegenden Städten und Dörfern; schaffen es nicht in das eine Museum oder an diesen von Locals angepriesenen Strand. Wir wollen auch diese Orte sehen, doch die Zeit reicht niemals aus. Die Welt bietet uns mehr als wir in einem Leben besichtigen können. Paris ist eben nicht nur der Eiffelturm und mit dem Besuch dessen erledigt. Wer einmal beginnt zu reisen, findet sich in einer endlosen Spirale wieder, in der es unmöglich ist, „fertig“ zu werden oder alle Punkte abzuhaken, denn jeder „erledigte“ Ort wird drei neue auf die Liste setzen.
In den letzten Wochen habe ich versucht, so viel wie möglich zu entdecken. Nachdem meine Quarantäne zu Ende ging, hatte ich ein großes Bedürfnis, aus meinem Zimmer in die Welt zu kommen und mein Erasmus-Semester endlich zu nutzen, um dieses Land zu erkunden. Aber zu meinen Wochenendtrips komme ich später; zuerst muss ich noch erzählen, wie meine Quarantäne ablief und wie die Lage hier in Frankreich ist.
Corona
Die Quarantäne nach meinem Corona-Kontakt war in jedem Fall sinnvoll, denn nicht nur ich, sondern auch fast alle anderen aus der Gruppe der Erasmus-Studierenden, sind am Corona-Virus erkrankt. Die Symptome waren dabei ganz unterschiedlich; manche hatten Fieber und Husten, andere Druck auf der Lunge oder Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns. Ich hatte Glück, dass ich lediglich starke Kopfschmerzen und Müdigkeit erdulden musste, und für eine Woche meinen Geruchssinn verloren hatte. Das ist zwar ein sehr befremdliches Gefühl, aber in Anbetracht der möglichen Krankheitsverläufe bin ich doch dankbar, dass bei mir und allen meinen Bekannten hier die Infektion glimpflich verlaufen ist.
Auch war meine Zeit in der Quarantäne nicht allzu einsam, denn als uns klar wurde, dass wir alle am Virus erkrankt sind, haben wir beschlossen, uns im Rahmen der Infizierten trotzdem zu treffen und Zeit miteinander zu verbringen. So eine Corona-Quarantäne schweißt zusammen.
Frankreich bricht in Sachen Neuinfektionen momentan alle Rekorde, und das jeden Tag aufs Neue. Deshalb musste jetzt auch die Regierung Maßnahmen ergreifen und durchsetzen. Diese werden allerdings sehr punktuell angewandt und ändern sich ständig, sodass es schwierig ist den Überblick zu behalten. Grenoble ist stark betroffen, wenn auch nicht ganz so schlimm wie Paris oder Marseille. Bars dürfen seit diesem Wochenende nicht mehr öffnen, für Cafés und Restaurants wurden die Vorgaben verschärft. Ab neun Uhr abends gilt nun eine Ausgangssperre. Die Lehre an der SciencesPo war für zwei Wochen online, weil es viele positive Fälle gab. Deshalb habe ich in meiner Quarantäne glücklicherweise gar nicht so viel verpasst wie befürchtet. Momentan findet das meiste wieder in Präsenz statt und ich drücke die Daumen, dass das so bleibt. Ich habe Probleme, in Zoom-Sessions konzentriert zu bleiben. Einerseits ist das WLAN im Studentenwohnheim eine Katastrophe, weswegen es passiert, dass man die Hälfte der Vorlesung verpasst. Und wenn das Internet dann ausnahmsweise mal läuft, ist es doch so verlockend, nebenbei das Zimmer aufzuräumen, Kaffee zu kochen oder die Wäsche zusammenzulegen während jemand auf einer Fremdsprache im Hintergrund plaudert.
Uni-Leben in Frankreich
Im Präsenzunterricht kann man sich dem Inhalt nicht auf diese Weise entziehen. Ich habe alle Kurse in sehr kleinen Gruppen von höchstens 25 Personen. Anwesenheit ist Pflicht und wird kontrolliert; Mitarbeit und Vorbereitung wird erwartet und oft auch benotet. Grundsätzlich ist das System viel schulischer, man muss wieder Hausaufgaben machen. Das fühlt sich anfangs ein wenig bevormundend an, allerdings glaube ich, dass man mehr Wissen und Verständnis mitnimmt, als wenn man lediglich die letzten vier Wochen im Semester den ganzen Stoff reinpresst, um dann nach der Klausur alles wieder aus dem Gedächtnis zu verbannen.
Die Uni nehme ich hier auf die leichte Schulter, denn ich kann mir sowieso keine ECTS oder Noten in Passau anrechnen lassen (da ich hier ein ganz anderes Fach studiere). Mir bleibt also viel mehr Zeit für meine persönlichen kleinen Projekte und dafür, die Umgebung kennenzulernen.
Mein Lieblingskurs ist übrigens „multi sports plein-air“. Jeden Dienstagvormittag treffen wir uns draußen zum Mountainbiken oder Klettern. Für das, was ich sonst in meiner Freizeit tun würde, bekomme ich hier 5 ECTS.
Freizeit & Ausflüge
Mit den Internationals ist hier immer was los. Trotz jeder Menge Auflagen, Verbote und geschlossenen Bars schaffen wir es, in unserer Gruppe gemeinsame Abendessen in Wohnheimküchen zu organisieren oder kuscheln uns in eins unserer viel zu kleinen Zimmer, um auf einem viel zu kleinen Laptop Filme oder die Debatten der US-Wahl anzuschauen. Corona dürfte für uns kein Problem mehr sein, da wir es ja alle hatten. In der Erasmus-Bubble herrscht vorerst Herdenimmunität.
Ende September war das Wetter hier teils noch warm teils schon sehr kalt und so haben wir einen letzten Tag am See verbracht, als man auf den Berggipfeln schon Schnee sehen konnte. Die schneebedeckten Berge sind vom Campus aus zu sehen und wecken auch nach Wochen immer noch Begeisterungsstürme in mir. Es hat hoch oben sogar schon so viel geschneit, dass letztes Wochenende ein Teil eines naheliegenden Ski-Gebietes geöffnet hat. Das haben wir uns natürlich nicht entgehen lassen, und während eigentlich gerade goldener Herbst ist, haben wir bereits die Schneesaison eingeläutet. Es ist hier auch möglich, vormittags zu einer Herbstwanderung aufzubrechen (die dann eher eine Arktis-Expedition durch Nebel und Schnee geworden ist) und nachmittags pünktlich in der Vorlesung zu sitzen. Aus genau diesem Grund habe ich mich für Grenoble entschieden.
Ein Wochenende im See; das nächste im Tiefschnee. Hier ist entweder Sommer oder Winter; die Stadt kennt nur zwei Daseinszustände.
Lyon
Das erste Oktoberwochenende habe ich mit 12 anderen Internationals in Lyon, der drittgrößten Stadt Frankreichs verbracht. Wir sind nur etwa 90 Minuten mit dem Auto angereist und sind dort in einem gemütlich-sauberen Hostel untergekommen. Die Stadt ist mit den vielen Prachtbauten und Kirchen mehr als vorzeigbar; es erinnert an ein ruhigeres, entspannteres Paris. Der Altstadtkern ist groß und beherbergt sowohl teure Boutiquen als auch alternative Vintage-Läden und süße Cafés. Der Aufstieg zur ´Basilique Notre Dame de Fourvière` lohnt sich nicht nur für die wunderschöne Kirche, sondern auch für einen beeindruckenden Ausblick über die Stadt. Ein weiteres Wahrzeichen der Stadt steht gleich nebenan, der ´tour métallique de Fourvière`. Der dem Eiffelturm nachempfundene Stahlturm soll ein Gegengewicht zur Basilika darstellen und die laizistische Republik und Bürgerschaft repräsentieren.
Aix-en-Provence
Weil ein entspanntes Netflix-Wochenende hier verschwendete Zeit wäre, ging das Reisen am nächsten Wochenende munter weiter, diesmal nach Aix-en-Provence. Mit Freunden, die weiter nach Marseille gefahren sind, bin ich drei Stunden im Auto angereist. Dort angekommen habe ich mich mit einer Freundin aus Passau getroffen, die ihr Erasmus dort verbringt. Wir haben das ganze Wochenende damit verbracht, durch das hübsche Städtchen zu spazieren und zu quatschen. Es war eine schöne Erfahrung, mal wieder mit jemandem aus Passau zu reden, man fühlt sich gleich wieder geborgen, wie zuhause. Aix ist so etwas wie der „schicke Vorort von Marseille“. Es ist unaufgeregt prachtvoll und sauber, hat eine schöne Altstadt, allerdings ist das Leben dort auch teurer als an anderen Orten in Frankreich. Ich habe mich sehr gefreut, das Wochenende außerhalb meines Wohnheims in der WG meiner Freundin zu verbringen. Dort gibt es eine „richtige“ Küche (mit Ofen, Mikrowelle und noch viel mehr Luxus!), ein großes Bett und familiäre Stimmung. Absolutes Kontrastprogramm zur anonymen Stimmung im Wohnheim. Das habe ich natürlich ausgenutzt: zu essen gab es eine superleckere vegane Quiche.
Stimmung
Trotz sich ständig ändernder Maßnahmen und alarmierend hohen Coronazahlen lassen wir uns unser Auslandssemester nicht vermiesen. Statt Bars nun eben Wohnheimzimmer, statt Partys eben Spaziergänge. Wir treffen uns eben in kleineren Gruppen in unseren Wohnheimen oder gehen eben vor neun Uhr abends nach Hause. Viele von uns sind einfach glücklich damit, in der freien Zeit in die Natur zu fahren oder zusammen zu kochen. Mehr braucht es auch gar nicht. Solange nicht ein absoluter Lockdown kommt, der mir das Entdecken der Berge verbietet, werde auch ich hierbleiben und das Beste aus der Lage machen. Denn trotz widriger Umstände tut es einfach gut, ein Semester mal keinen Notendruck zu haben und ganz neue Eindrücke zu gewinnen. Das Französisch wird langsam aber sicher besser und die entstandenen Freundschaften sind die Garantie für eine gute Zeit, ganz egal wie die äußeren Umstände sich ändern.
Sommerfeeling vs. Wintervibes. Beide Fotos sind im Oktober, nur zwei Wochen nacheinander entstanden.
by the way:
Bei Fragen zu Auslandssemester, Erasmus, Frankreich, Grenoble, etc. oder auch bei Anregungen zu Themen, die euch interessieren, schreibt gerne Blank Online auf Facebook oder einen Kommentar!
Fotos: Lisa Bartelmus