Leere Wände. Unbeschriebenes Papier. Eine weiße Leinwand. Verwaiste Gänge. Leere Wände.
Irgendetwas in mir regt sich beim Anblick dieser Dinge. Ein Instinkt, der von mir verlangt, die Wände, das Papier, die Leinwand, die Gänge zu füllen. Die weißen Wände, die mich umschließen, das Papier in meiner Hand, die Leinwand vor mir, den Gang vor meiner Tür. Die leere Leinwand vor mir soll für den Moment mein geringstes Problem sein. Ich habe noch viele weitere bei mir, die längst in Farbe getränkt wurden. Die Wände sind es, deren kaltes Weiß ich nicht ertrage. Ich will sie färben mit meinen Werken, will so die Gänge füllen. Mit Menschen, die vom neuen Glanz um sie herum genau so fasziniert sind wie ich. Und das Papier? Das Papier ist der Teil des Kunstwerks, der egoistisch ist. Der Teil, der preisgibt, wer Stunde um Stunde in dieses Werk gesteckt hat.
Ich bin Künstler.
Ein Erschaffer. Ein Gestalter. Jemand, der fühlt.
Mit ruhiger Hand setze ich die Füllfeder auf das weiße Papier. »Der Kunstschmuggler«. Mehr werden sie nicht erfahren.
Langsam erhebe ich mich aus dem samtenen Sessel, der mit großer Sicherheit ein Vermögen gekostet hat, und begutachte das Stück Papier in meiner Hand. Meine Identität.
Auf dem Bett zwei Schritte neben mir fließt Wasser. Wasser aus Händen. Vorsichtig hebe ich die Leinwand von den Bettlaken. Sie ist nicht groß, aber groß genug, um gesehen zu werden.
Ich nehme den gusseisernen Zimmerschlüssel vom Nachtkästchen und öffne die Tür. Und da ist es. Das Gefühl, etwas zu tun, dessen Ausgang ungewiss ist. Es ist niemand zu sehen. Meine schweren Schritte werden vom Teppich, der den ganzen Gang entlang verläuft, verschluckt. Tür um Tür säumt die kalte Wand zu meiner Rechten. 127, 128, 129. Zimmer um Zimmer reiht sich aneinander. Und in ihnen schreibt sich vielleicht gerade eine Geschichte selbst.
Manchmal, wenn ich die Gänge der Hotels entlang gehe, frage ich mich, was hinter all den Türen geschieht. Ob jemand etwas dahinter verbirgt, so wie ich. Ob jemand einfach sorglos in einem der teuren Sessel sitzt. Ob jemand darin malt.
Nach wenigen Metern bin ich an meinem Ziel angekommen. Gegenüber des Eingangs zu Zimmer 130 steht eine massive Holzkommode.
Ich sehe mich um. Der Gang ist still. Eine weitere Sache, die ich mich schon immer gefragt habe. Warum begegnet man auf Hotelgängen so selten anderen Gästen? Es ist als wären die Türen Eingänge zu in sich geschlossenen Welten. Welten, in denen sich Geschichten selbst schreiben. Und die Gänge sind lediglich Räume für diejenigen, die ihre Welt noch nicht gefunden haben.
Habe ich meine Welt bereits gefunden? Ist meine Welt ein Zimmer mit Leinwänden? Leeren Leinwänden. In Farbe getränkten Leinwänden. Oder sollte ich mir Gedanken darüber machen, warum ich mich immer wieder in den Gängen von Hotels finde?
Behutsam stelle ich nun die Leinwand auf der Kommode ab und lehne sie an die Wand. Das Wasser fließt von den Händen auf das dunkle Holz. Daneben platziere ich meine Identität. Mir ist klar, dass die beiden Worte auf dem Blatt Papier niemandem dabei helfen werden, den Erschaffer der Kunst ausfindig zu machen. Dass meine Arbeit in den Augen vieler wertlos erscheinen wird. Keiner weiß, von wem die Kunstwerke stammen, die Woche um Woche in den Gängen von Gebäuden in ganz London erscheinen. Keiner weiß, wie viel mehr hinter den Händen steckt, aus denen Wasser fließt.
Es ist nicht nur ein Kunstwerk. Es ist meine Schöpfung. Meine Leidenschaft.
Ich fahre mit meinen rauen Fingern über das Aquarell und denke an die vielen Pinselstriche, die mich hierher gebracht haben. Ich denke an den Pinsel, der sich wie durch Magie an meine Hand anpasst. Ich denke an den Moment, in dem ich den Pinsel in die Hand nehme und in dem plötzlich mein Kopf frei von jeglichen Gedanken ist. In diesem Moment sehe ich die Farben. Ich sehe, wie sie ineinander laufen. Wie sie sich formen nach meiner Vorstellung. Ich schließe die Augen. Und ich male im Geiste den Lauf des Wassers noch einmal. Ich male die Linien, mit denen die Zeit die Hände gezeichnet hat. Ich male den scheinbar nicht enden wollenden Hintergrund.
Warum ich male und die Werke hier ausstelle, ohne sie zu verkaufen?
Ich bin Künstler.
Ein Erschaffer. Ein Gestalter. Jemand, der fühlt.
Und ich will, dass andere Menschen genauso fühlen.
Als ich die Augen öffne, hat sich nichts verändert. Es ist still. Das Bild lehnt mir gegenüber an der Leinwand. Ich betrachte es ein letztes Mal und kehre ihm dann ohne Wehmut und mit dem Gefühl, mein Ziel erreicht zu haben, den Rücken zu. Als ich meinen ersten Schritt weg von meinem Werk machen will, höre ich hinter mir das gedämpfte Geräusch eines Schuhs auf Teppichboden. Ein Hotelgast. Jemand, der vielleicht gerade auf den Weg in seine eigene Welt ist. Oder jemand, der noch zu entscheiden hat, zu welcher Welt er gehört.
Die Neugier packt mich. Ich drehe mich um. Eine junge Frau in einem bordeauxroten Abendkleid ist direkt hinter mir zum Stehen gekommen. Ich sehe sie an, aber sie hat nur Augen für das Wasser in den Händen. Sie neigt ihren Kopf, mustert das Werk, durchdringt es mit ihrem tiefen Blick. Und in diesem Augenblick weiß ich, dass sie auf der Suche ist nach ihrer Welt und nach ihrer Geschichte, die sich noch selbst zu schreiben hat. Sie nimmt das Stück Papier mit meiner Identität in die Hand und fährt die geschwungen Lettern mit ihrer zierlichen Hand nach. Ihr helles Haar, das sich in Wellen an ihr Gesicht schmiegt, verdeckt ihren Ausdruck. Trotzdem kann ich mich nicht von ihrem Anblick lösen. Von dem Bild der jungen Frau, die in mein Werk vertieft ist. Das erste Bild einer Ausstellung, die ich bis jetzt noch nicht besucht habe.
Ich kann mich nicht lösen und umkehren. Stattdessen warte ich. Bis sie sich schließlich von der Leinwand abwendet und ihre undurchdringlichen Augen auf meine treffen.
„Sie sind der Kunstschmuggler, dessen Werke mich durch ganz London zu verfolgen scheinen?“
Das ist der Grund, warum ich es tue.
„Ich bin der Kunstschmuggler.“
Diese Frau fühlt. Genauso wie ich.