★★★★★
Ein Boot kämpft gegen die reißenden Wassermaßen eines stürmischen Flusses. Darin sitzen du, ein krebskranker junger Mann, eine Schwangere und ein alter Herr. Du kannst nur eine Person vor dem Ertrinken bewahren. Für wen wirst du sich entscheiden? Nach welchen Kriterien triffst du deine Entscheidung? Kann man überhaupt ein Menschenleben gegen ein anderes aufwiegen?
Das Theaterstück „Gedankenspiele“ der Hochschulgruppe Let’s Play, welches Ende vergangener Woche im Zauberberg seine Premiere feierte, greift solche moralische Grundfragen auf. Dafür wird der Zuschauer in einen transzendenten Gerichtssaal entführt, in dem Urteile über die Schuld kürzlich verstorbener Straftäter gesprochen werden.
Der ambitionierte Kinnon (Marlene Wetzl) darf zum ersten Mal seit seinem Arbeitsbeginn als Praktikant des obersten Gerichts den Verhandlungen persönlich beiwohnen. Seine Freude über diesen Karrieresprung hält jedoch nicht lange an, da die Prozesse anders ablaufen, als er es erwartet hätte. Es werden keine Zeugen angehört, keine Beweise vorgelegt, keine Gesetzesparagraphen zitiert. Stattdessen führen die zwei Anwälte Aidan und Kelvin kurze, beinahe alibimäßige Verhöre mit den Angeklagten und erwarten dann das weitestgehend unfundierte Urteil des obersten Richters (Melanie Lachmann). Kurzum: ein wahres Albtraum-Szenario für die gewissenhaften Jurastudenten unter den Zuschauern und insbesondere für den idealistischen Kinnon. Besonders enttäuscht zeigt er sich von dem Gebaren des obersten Richters. An einem dramatischen Auftritt scheint dem „ Herrn“ weit mehr gelegen, als an einer sauberen Urteilsfindung. Wenn er nicht gerade raucht oder trinkt, springt er wie wild geworden über die Bühne oder verzieht die Miene zu grotesken Fratzen. Bis zuletzt bleibt unklar, ob der Herr einen willkürlichen Gott, den Teufel oder die Personifikation des gnadenlosen Rechtssystems darstellt.
„Das Recht ist sprunghaft, wie ein Kaninchen.“
An Kinnon’s erstem Tag im Gericht werden die Fälle einer Mörderin, eines Vergewaltigers und einer Abtreiberin vorgestellt. Auf den ersten Blick mögen die Angeklagten alle schuldig wirken, doch im Laufe der Verhandlungen werden ihre Motive und persönlichen Leidensgeschichten klarer, und die Schuldfrage damit schwerer zu beantworten. Nebenbei präsentiert der Richter etliche verschiedene Gedankenspiele, die die moralischen Einstellungen der Zuschauer weiter herausfordern und hinterfragen.
Das Stück überrascht mit einigen unkonventionellen Inszenierungsideen, erwähnt sei hier eine Tanzeinlage, bei der sich die Tänzer mit Farben beschmieren und sich dann wie im Todeskampf auf dem Boden krümmen. Dadurch wirkt die Vorführung erfrischend experimentell, ohne zu sehr in postmoderne Verwirrungen abzudriften. Mit wundervollen Zitaten wie: „Zigaretten sind die Fackeln der Selbsterkenntnis“ lockert die Theatergruppe die düstere Stimmung des Stücks zwischendurch gekonnt auf.
Die Autorin des Stücks, Arizona Payor, hat sich für ihr erstes Drehbuch ein anspruchsvolles Thema ausgesucht. Sie stellt sich den großen, moralischen Fragen, über die sich Philosophen schon seit Jahrhunderten den Kopf zerbrechen. Das Stück präsentiert nie endgültige Antworten auf diese Probleme, sondern lässt dem Publikum Raum zur eigenen Reflexion. Am Ende bleiben viele Fragen offen: Gibt es Gerechtigkeit überhaupt? Sind wir als im Kern irrationale, emotionale und egoistische Menschen in der Lage, angemessene Urteile zu fällen? Oder vermag das nur eine allwissende, übergeordnete Instanz zu tun? Darin liegt wohl der Reiz eines himmlischen Gerichts.
Persönliches Fazit des Blank Autors: Eine teuflisch gute Inszenierung! Besonders brillant war Melanie Lachmann in der Rolle des Richters. Ich vergebe 5 aus 5 Sternen.
Beitragsbild: Lara Wiebecke