Der leicht ergraute Rock‘n‘Roll-Allrounder auf der Bühne setzt sich eine Bob Marley Mütze auf und ruft: „Let‘s bring Reggae to Passau“ in sein Mikrofon. Es ist ein Versprechen, das der tapfere Lederhosen-Leadsänger nur schwer halten kann. Zum Scheitern verurteilt scheint der mutige Versuch mit knallbunter Rastafari-Kappe Jamaika-Flair in die in Landesfarben geschmückte Mehrzweckhalle voller Trachtenträger zu bringen. Aber heute gelten andere Regeln, denn es ist Maidult in Passau: Sobald seine ebenso leicht ergrauten Bandkollegen die ersten Takte von „No Woman No Cry“ anspielen, bricht ungehemmte Euphorie aus unter dem leicht bewölkten Stofffirmament der Dreiländerhalle: Als wäre Franz Josef Strauß höchstpersönlich reinkarniert, reißt die raue Stimme des Weißwurst-Jamaikaners die Besucher förmlich auf die Bierzelt-Garnituren. Die einen mehr, die anderen weniger souverän. Und schon erklingt der Refrain aus dem Choral hunderter biergeölter Kehlen, begleitet vom Knarzen der sich beachtlich biegenden Bierbänke. Ein faszinierendes Schauspiel, bei dem der Wiedererkennungswert des Liedes mehr zählt als die Textsicherheit.
Zum hämischen Blick der Kellnerin auf meine Jeans gesellt sich ein süffisantes Lächeln, als ich, peinlich berührt, ihre rhetorische Feststellung „Acht Maß für die Herren“ in „Sieben Maß und eine Apfelschorle“ korrigiere. Ich möchte die Dult nüchternen Auges miterleben, möchte wissen, ob es sich um eine exklusive Veranstaltung für Bierliebhaber handelt oder sich ein Dultbesuch auch nüchtern lohnt.
Verunsichert schweift mein Blick durch die Mehrzweckhalle, die das Hauptzelt darstellt: Zu beiden Seiten stehen rustikale Holzverschläge, aus denen heraus allerlei Traditionelles verkauft wird. An der Decke sind von der Mitte aus hellblaue Stoffbahnen zu beiden Seiten gespannt, die einerseits Zeltatmosphäre, andererseits auch ein Freiluftgefühl hervorrufen sollen. Ein Gegensatz, der in der Hallte erstaunlich harmonisch wirkt. Ich versuche meine Beobachtungen mitzuteilen, aber stelle schnell fest: Die Dult ist kein Ort für lange Gespräche. Hier sitzt, steht, springt, tanzt und wankt man, mal mit, mal gegen die Musik, mal auf, mal neben,und manchmal auch unter den Bänken. Die laute Musik und das viele Bier sorgen für ausufernde Heiterkeit ringsherum. Alles tanzt, alles dreht sich, alles bewegt sich. Ich fühle mich exotisch, aber lasse mich mitreißen. Bald schon stehe ich auch auf der Bierbank und singe ebenso mit. Nach einer Weile verstehe ich den Genius, der sich hinter den greisen Altrockern verbirgt, die sich vorne auf der Bühne überwiegend textsicher zwischen Schlager und Spice Girls bewegen. Einen ganzen Abend mit Liedern zu füllen, deren Text oder zumindest deren Refrain das ganze Zelt, also die ganze Mehrzweckhalle, kennt, verdient Respekt.
Zwischendurch wird die Musik für eine Trachten-Modenschau unterbrochen. Rustikale Manns- und Weibsbilder hopsen zu Blasmusik über die zum Laufsteg umfunktionierte Bühne. Sie präsentieren die neuesten Lederhosen- und Dirndl-Trends. „Preißnkleider“ urteilt mein Nebenmann abfällig und erzählt voller Stolz die Geschichte seiner Lederhose. Schon seit 1890 befinde sie sich im Familienbesitz, noch aus Zeiten, in denen sie Alltagskleidung war, nicht nur nostalgisches Kostüm. Nicht auszudenken, was dieses Kleidungsstück schon alles miterlebt hat.
Während mein, zugegeben, „preiß’sches“ Auge noch versucht einen Unterschied seines Beinkleids zu den neueren der anderen zu entdecken, werde ich angerempelt, gefolgt von einer kleinen Bierdusche: Es ist mein hinterer Banknachbar. Schon seit geraumer Zeit befindet er sich in einem aufreibenden Kampf gegen die Schwerkraft, der mit jedem trotzigen Schluck aus dem Maßkrug, mit jedem Lied, das ihn zum Tanzen zwingt, aussichtsloser wird. Auch wenn ihm seine erhobenen, oft nach Gleichgewicht rudernden Arme langsam das aufrechte Tragen des Kruges verbieten, wankt er weiter tapfer im Takt und singt überraschend textsicher mit. Für ihn scheinen die gängigen Gesetze des Multitaskings nicht zu gelten. „‘Tschuldigung“ nuschelt er mir zu um gleich darauf weiterzusingen. „Sweet Home Alabama, where the skies are so blue“.
Im hinteren Teil, beginnt eine Gruppe junger Männer ihre Oberkörper zu entblößen. Etwas weiter links davon, vor den ausgelassenen Tänzern im Gang, sehe ich ein Mädchen, das seinen Kopf erstaunlich lange nicht von der Tischplatte hebt und sonst auch keinerlei Regung zeigt. Beunruhigt weise ich darauf hin, werde aber gelassen belehrt das sei normal auf der Dult.“Die ruht sich nur kurz aus!“. Und tatsächlich, keine zwei Minuten später, auf dem Weg zum Außenbereich, kommt sie an uns vorbeigetanzt, wieder topfit, als sei nichts gewesen. Spätestens jetzt bin ich mir endgültig sicher, es geschehen hier Dinge, die mein nüchterner Verstand nicht begreifen kann.
Draußen lernt man zunächst die Vorteile der beheizten und isolierten Halle zu schätzen. Es ist kalt und regnet.
Vorbei an den bekannten Jahrmarktsbuden mit erwartbar ähnlichem Sortiment und enormen Preisen, geht es zum sogenannten „Bayern Breaker“. Dieses Fahrgeschäft ist nichts Geringeres, als der Endgegner des Dultbesuchs: Hat man den Gefahren des Alkohols, des Schwindels und der rutschigen Bierbänke bisher getrotzt, ist es hier, wo sich die Spreu vom Weizen trennt. Ehrfurchtsvoll betrachte ich die 20 Meter hohe Stahlkonstruktion. Was für den Bayern sein Bier ist, sind für Jahrmarkts-Fahrgeschäfte die Umdrehungen: Je mehr desto besser. Und der „Bayern Breaker“ treibt diesen Grundsatz auf die Spitze: Optisch ist er ein brutaler Mix aus Schiffschaukel und elektrischem Stuhl, der sämtliche vorstellbaren Rotationen kombiniert und somit den Fahrkomfort einer Waschmaschine verspricht. Eine Werkzeug des Bösen, nicht zum Genuss erbaut, sondern zur bloßen, sinnlosen Destruktion. Kurz, ein erbarmungsloser Ritt auf der Zentrifuge, genau das Richtige also für den durchschnittlichen Betrunkenen.
Mit Schrecken sehe ich, dass auch mein vorheriger Sitznachbar auf die Höllenmaschine zuwankt. Wie ein kampferprobter Boxer hat er in der Halle heldenhaft den KO abgewendet und geht nun, in den späten Runden, mit vollem Risiko selber in den Angriff über.
Er besteht die Prüfung unbeschadet. Unverkennbarer Stolz zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Heute hat er den Kampf gewonnen, er ist unbesiegbar. Ohne sich nochmal umzudrehen verlässt er mit seiner Gruppe diesen Ort der fröhlichen Ausgelassenheit.
Auch für mich ist es langsam Zeit zu gehen. Auch ich habe einen Kampf gewonnen, habe die Maidult nüchtern überstanden. Zum Abschied schaue ich noch einmal in das Hauptzelt. Die Trachtenband spielt „An Tagen Wie Diesen“ von den Toten Hosen. Ein Besucher in grünkariertem Hemd hat sich vorne an der Bühne ungeachtet der Sicherheitsauflagen mutig auf den Tisch gestellt, beide Arme gen Himmel gestreckt und singt lauthals mit. Der Sänger reicht ihm das Mikrofon und lässt ihn den Refrain singen. Es ist ein würdiges Ende für einen erlebnisreichen, lustigen Abend. Auch nüchtern betrachtet lohnt sich die Dult.
Photo: Verena Dreiner
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