Bild via Vereinte Wurzelwerke e.V.

Die Solidarische Landwirtschaft Passau – wo Gemüse kämpft und Gemeinschaft wächst

Rebecca Bieling Chefredakteurin und Ressortleiterin Gesellschaft & Politik

Wenn eine kleine Gruppe von Menschen gegen eine Armee kämpft, oft getarnt als Zivilpersonen, nennt man das einen Guerillakrieg. Denn übersetzt heißt das spanische Wort guerilla „kleiner Krieg“.

Und wenn auf einem Acker zwischen zwei Aroniafeldern bei Passau „Gemüse fern von den Marktzwängen und fern von den Auswüchsen des Kapitalismus“ produziert wird, dann nennt Markus Muckenschnabl (58) das „Guerilla-Gemüse“. Er ist Vereinsvorstand und Mitgründer von Vereinte Wurzelwerke Ilztal e.V., Passaus erster Solidarischer Landwirtschaft (Solawi), und gibt Einblicke in den alternativen Wirtschaftskreislauf des Projekts.

Versagt der Markt?

Um zu verstehen, gegen wen die Solawi und ihr Kleinkrieg-Gemüse antreten, lohnt sich ein genauerer Blick auf „den Markt“ – insbesondere auf den Lebensmittelmarkt in Deutschland. Grundsätzlich setzt er sich aus Angebot und Nachfrage zusammen: also aus der Menge an Gütern, die Hersteller:innen zu einem bestimmten Preis produzieren, und jener Menge, die Käufer:innen zu ebendiesem Preis erwerben möchten.

In der Theorie regeln Angebot und Nachfrage die Lebensmittelpreise – doch das klingt einfacher, als es ist. Einerseits spielen zahlreiche Faktoren in die Preisentwicklung hinein, die aufgrund der Internationalität des Handels auch immer an den Weltmarkt gekoppelt sind. Andererseits sind die Preise ungerecht. Denn das sich theoretisch einstellende Marktgleichgewicht weist in der Realität klare Anzeichen des Versagens auf.

Externe Kosten, also Auswirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten auf unbeteiligte Dritte, entstehen unter anderem in Bezug auf die Umwelt: Wasserverschmutzung, Artensterben und Bodendegeneration aufgrund intensiver Landwirtschaft sind weit verbreitet. Diese Kosten werden nicht vom Markt getragen, sondern auf die Gesellschaft abgewälzt – ein klassisches Zeichen von Marktversagen.

Ein weiteres Merkmal versagender Märkte sind Monopol- beziehungsweise Oligopolstrukturen, in denen wenige große Unternehmen den Markt dominieren. Auch das ist auf dem deutschen Lebensmittelmarkt eindeutig gegeben.

Der Handel ist König

In Deutschland kontrollieren laut Bundeskartellamt „die großen Vier“ rund 87 % des Lebensmittelmarktes: Edeka (mit Netto), Rewe (mit Penny), Aldi und die Schwarz-Gruppe (Lidl und Kaufland). Die hohe Unternehmenskonzentration – also die Dominanz weniger Konzerne – hat weitreichende Folgen. Denn durch ihre hohe Marktmacht können sie Preise und Standards vorgeben.

Beim sogenannten Preisdumping senken Supermärkte die Preise künstlich, oft bis unter die eigentlichen Produktionskosten. So werden Kund:innen angelockt, doch die Landwirt:innen verlieren maßgeblich durch diesen Mechanismus. Um ihre Kosten überhaupt noch decken zu können, müssen sie beispielsweise Abstriche beim Umweltschutz machen. Aber nicht nur die Umwelt leidet, sondern auch die Berufsgruppe selbst: Die Burn-Out-Rate bei Landwirt:innen ist 4,5-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Zahlen zeigen: Die Gewinne der Handelsketten steigen immer weiter, während die der landwirtschaftlichen Betriebe sinken.

Ideen, die dem Handel die Macht entziehen, gibt es bereits. Wer wissen möchte, wie das konkret aussehen kann, wird in Passau fündig.

Preisbildung abseits des Marktes: Gemeinschaftsfinanzierung

Die Solidarische Landwirtschaft in Passau möchte sich nicht den Regeln des deutschen Lebensmittelmarktes beugen und setzt stattdessen auf ein alternatives Konzept. Der gemeinnützige Verein Vereinte Wurzelwerke Ilztal e.V. wurde 2015 gegründet und versorgt aktuell rund 100 Passauer Haushalte mit biologischem Obst und Gemüse – regional, saisonal und in Demeter-Qualität.

Markus erklärt, wie die drei Vereinsvorstände Heidi Kelbetz, Florian Fischer und er selbst den Finanzplan aufstellen: „[Wir] errechnen zu Beginn des Jahres das erforderliche Budget für das kommende Erntejahr. Diese Summe wird durch die Zahl der Pakete geteilt und ergibt so einen Richtwert für den Wert eines Pakets. Diesen Wert geben wir bekannt.“ Ein Paket ist auf den Obst- und Gemüsebedarf von ein bis zwei Personen ausgelegt und kann von den Mitgliedern der Solawi immer mittwochs abgeholt werden.

Von links nach rechts: Florian Fischer, Heidi Kelbetz, Markus Muckenschnabl (Bild via Vereinte Wurzelwerke e.V.)

Der Richtwert wird bei der sogenannten Bieterrunde bekannt gegeben, die zu Beginn des Erntejahres stattfindet. Hier notiert jedes Mitglied auf einem Zettel, welchen Betrag es bereit ist, pro Monat für das nächste Jahr zu zahlen. „Die Zettel werden eingesammelt, addiert – und wenn wir auf die Budgetsumme kommen, passt es“, erklärt Markus. In den vergangenen Jahren habe das meist im ersten Anlauf funktioniert. Falls nicht, gibt es eine zweite Runde oder der Budgetplan muss angepasst werden.

Der Grund für dieses Verfahren ist, dass Mitglieder, die finanziell gut situiert sind, kein Problem damit haben, etwas mehr zu bieten. Mitglieder mit kleineren Geldbeuteln können hingegen etwas weniger zahlen.

Anders als auf dem herkömmlichen Lebensmittelmarkt werden bei der Solawi die Preise also selbst bestimmt. Wie wirkt sich das auf die Produzent:innen und Konsument:innen aus?

Planungssicherheit statt Profitmaximierung

Zuständig für die eineinhalb Hektar gepachtetes Land der Passauer Solawi sind Landwirt Florian und Gärtner Miguel. „Der ist unser Mover, ein Shaker auf dem Acker“, sagt Markus schmunzelnd. Ihr Berufsalltag unterscheidet sich deutlich von dem konventioneller Landwirt:innen: Sie wissen genau, für wen sie das Obst und Gemüse anbauen, treffen gemeinsam mit den Mitgliedern Entscheidungen über Anbau und Sortenwahl – und stehen regelmäßig mit ihnen auf dem Feld. Denn Arbeitseinsätze, angeleitet von den Landwirt:innen oder Gärtner:innen, sind ein zentraler Bestandteil der Solidarischen Landwirtschaft.

Auch finanziell setzt die Solawi eigene Maßstäbe. „Das Gros unserer Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen geht an die Mitarbeitenden“, erklärt Markus. Ziel sei es, die Angestellten möglichst über Tarif zu bezahlen. Dadurch dass die Preise nicht von Handelsketten vorgeschrieben werden, wird Bio-Anbau und guter Umgang mit der Umwelt und dem Klima möglich. Auch von Handelsnormen machen sich Solidarische Landwirtschaften frei. Krumme Karotten, zu kleine Äpfel – all das, was im Supermarkt aussortiert würde, landet hier in auf dem Teller statt im Müll.

Für Landwirt:innen, die auf hohe Gewinne aus sind, ist eine Solawi kaum das richtige Modell. Es geht nicht um Profitmaximierung, sondern um Kostendeckung. Gedeckt werden allerdings, anders als auf dem versagenden Lebensmittelmarkt, die tatsächlichen Kosten – ohne Ausbeutung von den Arbeitenden in der Landwirtschaft und den natürlichen Ressourcen. Außerdem bringt das Konzept eine seltene Sicherheit: Schon zu Jahresbeginn stehen die Einnahmen fest – unabhängig von Wetterereignissen oder Schädlingsbefall. Denn die Solidargemeinschaft verpflichtet sich zu monatlichen Beiträgen, egal wie groß die Ernte ausfällt. Geteiltes Risiko, geteiltes Glück.

Der etwas andere Einkauf

Wer Mitglied bei den Vereinten Wurzelwerken ist, bekommt keine fertig gepackte Gemüsekiste bis an die Haustür geliefert – diese Unterscheidung ist Markus wichtig: „Bei uns geht die Mitgliedschaft mit Mitspracherecht, Gestaltungsrecht und auch mit Mitarbeit einher.“ Es gibt zwar einen Richtwert für die Teilnahme an Arbeitseinsätzen, kontrolliert wird das aber nicht.

Die Abholung der Ernteanteile erfolgt entweder in der Altstadt oder direkt am Hof im Ilztal – je nach Vorliebe. Vor Ort nimmt sich jede:r das Gemüse aus den bereitgestellten Kisten, das ihm oder ihr zusteht. Auch das basiert auf Vertrauen.

Wer also bereit ist etwas zusätzliche Zeit einzuplanen, erhält jede Woche frische Lebensmittel – inklusive Transparenz und hoher Qualität. Das bedeutet aber auch: Im Winter gibt es viel Kohl und Lagergemüse, und die Erntemengen schwanken im Jahresverlauf stark. Eine Umstellung für viele, die an die ständige Verfügbarkeit von Obst und Gemüse im Supermarkt gewöhnt sind. Was dort jedoch fehle, sei der Bezug zur Natur und zur Erde, aus der die Produkte stammen, kritisiert Markus: „Wir gehen in den Discounter, nehmen das abgepackte Zeug, das in Plastikfolien verschweißt ist, und ignorieren die Chemie und Pestizide, die nötig sind, um dieses vereinheitlichte Essen zu produzieren.“ Stolz fügt er hinzu:

Bei uns wissen schon die Vierjährigen, was Topinambur ist.

Doch es geht um mehr als nur Lebensmittel. Die Vereinten Wurzelwerke wollen auch Bildungs- und Erfahrungsräume schaffen – ein wichtiger Aspekt ihrer Gemeinnützigkeit. Regelmäßig finden im Rahmen des Formats Wurzelwissen öffentliche Vorträge statt, die Informationen rund um nachhaltige Landwirtschaft und Ernährung vermitteln.

(Bild via Vereinte Wuzelwerke)

Ein Siegeszug?

Solidarische Landwirtschaften haben es geschafft, sich erfolgreich der oligopolistischen Machtstruktur des Lebensmittelmarktes zu entziehen. Stattdessen setzen sie auf eine solidarischen Ansatz. Doch ob das Konzept wirklich das Potenzial hat, den großen Handelsketten Paroli zu bieten, bleibt fraglich. Markus hofft, dass die Idee grenzenlos ist, doch er weiß auch: „Die Menschenmasse, die sich von so einem Konzept angesprochen fühlt, ist begrenzt.“ Denn während einige Gemeinschaft und einen engen Bezug zu Region und Lebensmitteln schätzen, sehen andere vor allem den Zeitaufwand und den Verlust flexibler Einkaufsmöglichkeiten.

Auch der Standort einer Solidarischen Landwirtschaft spielt eine entscheidende Rolle. „Aus Erfahrung würde ich sagen, dass Solawis am besten in Ballungsgebieten funktionieren“, so Markus. In Städten gibt es eine hohe Zahl an Interessent:innen, und der Weg zu einer Solawi am Stadtrand ist meist nicht weit. In ländlichen Regionen gestaltet sich das jedoch schwieriger: Einerseits sind die Wege zum solidarischen Hof deutlich länger, andererseits besitzen viele ländliche Haushalte ohnehin einen eigenen Garten.

Im Jahr 2023 gab es in Deutschland 467 Solidarische Landwirtschaften – 1989 war es nur eine. Ein beachtlicher Anstieg, im Vergleich zur Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland machen sie aktuell 1,8 % aus. Potenzial nach oben gibt es also, aber nicht unbegrenzt, denn Deutschland ist insbesondere bei Obst und Gemüse stark von Importen abhängig: Im Wirtschaftsjahr 2023/2024 lag der Selbstversorgungsgrad bei Gemüse bei 37 %, bei Obst nur bei 20 %. Viele beliebte Obst- und Gemüsearten wachsen aufgrund der klimatischen Bedingungen in Deutschland schlecht oder gar nicht. Eine Studie am Beispiel Hessen zeigt zwar, dass eine vollständige Selbstversorgung theoretisch möglich wäre, doch dafür müssten die Essgewohnheiten der gesamten deutschen Bevölkerung grundlegend verändert werden. Solidarische Landwirtschaften können die Abhängigkeit von Importen also verringern, aber ohne eine Ernährungswende der Bevölkerung wird es nicht gehen.

Gesundes Wachstum

Dennoch: „Wir sind ein Erfolgsmodell“ – davon ist Markus überzeugt. Und vielleicht geht es gar nicht darum, jede konventionelle Landwirtschaft in Deutschland durch eine solidarische zu ersetzen. Vielmehr sollen alternative Möglichkeiten und Wirtschaftsweisen sichtbar werden und einen Gedankenanstoß bieten.

Was in Passau vor zehn Jahren mit 30 Mitgliedern begann, ist heute ein Verein mit 100 engagierten Teilhabenden. Und Markus? Der ist zufrieden:

Wir sind so, wie wir jetzt sind, gesund.

Weiter wachsen? Ist nicht das Ziel. Vielmehr geht es den Vereinten Wurzelwerken darum, ihre Ideen weiterzutragen und viele kleine Keime der Veränderung zu säen. So haben sie bereits die Gründung einer weiteren Solawi in Straßkirchen begleitet. Im Gespräch mit dem Vereinsvorstand wird klar: Unaufhörliches Wachstum und Konkurrenzdenken – Grundpfeiler der kapitalistischen Wirtschaft – haben hier keinen Platz.

Für die, die kampfeslustig geworden sind

Das neue Erntejahr für die Vereinten Wurzelwerke beginnt am 7. März 2025. Besonders jungen Familien empfiehlt Markus eine Mitgliedschaft, denn sowohl die ältere als auch die jüngere Generation fühle sich auf dem Acker pudelwohl. Auch für Wohngemeinschaften könnte das Konzept gut funktionieren. Denjenigen aber, „die den Blick für die Gleichheit aller Menschen verloren haben“, bietet die Passauer Solawi keinen Raum.

Aktuell seien noch Mitgliedspakete verfügbar, so Markus. Wer im kommenden Jahr also Lust hat, „nach Feierabend zu sagen: Heute juckt es mich noch ein bisschen, heute stecke ich noch die Finger in die Erde“, und dabei regionales Guerilla-Gemüse zu ernten sowie gemeinsam gegen Handelsketten, Marktzwänge und Kapitalismus anzukämpfen, für den sei eine Mitgliedschaft nur eine E-Mail entfernt.