„Leinst du bitte deinen Hund an? Der hat letztes Mal jemanden gebissen!“ „Jaja, der macht schon nichts.“ Der kleine, weiße Übeltäter schaut unter einem hölzernen Tisch hervor, seine Besitzerin sitzt auf einem Stuhl davor. Sie trinkt eine Tasse Tee und liest Zeitung. Der kleine Raum mit grünen Wänden und zwei weiteren Tischgruppen ist gut gefüllt. In der rechten Ecke steht ein Schrank, der mit bunter Kleidung und Schuhen überquillt. Auf den Tischen befinden sich Tabletts mit Gläsern und Zeitungen. Durch die Fenster sieht man Bahngleise. Eine geöffnete Tür führt in einen weiteren, noch kleineren Raum. Dort befindet sich eine Küche und ein kleines Büro mit Computer und diversen Ordnern. Die Bahnhofsmission in Passau ist klein, die Anzahl der Gäste groß. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin belegt in der Küche gerade Brötchen, kocht Kaffee. Angelika Leitl-Weber, Leiterin der Bahnhofsmission in Passau, hat ordentlich zu tun. „Ganz oft bleiben Sachen liegen.“ Administrative Sachen, zu denen Leitl-Weber häufig nicht kommt. Die Gäste fordern ihre Aufmerksamkeit. Die hauptamtliche Mitarbeiterin leitet die Passauer Bahnhofsmission seit neunzehn Jahren. Langweilig wird ihr dabei nicht: „Es ist keine einfache Arbeit. Oft kommen Leute, die sich ehrenamtlich betätigen wollen. Nach einem Tag Probearbeiten melden sich die meisten nicht mehr.“ Die Arbeit mit Obdach- und Wohnungslosen, Armutsbetroffenen, Drogen- und Alkoholabhängigen ist nicht für jeden geeignet. Die Bahnhofsmissionen in ganz Deutschland sind niederschwellige Einrichtungen, zu denen Menschen am Rande der Gesellschaft kommen können. Sie müssen kein Geld bezahlen, müssen nichts nachweisen. Jeder ist willkommen.
Zwei Frauen unterhalten sich in einer Ecke der Bahnhofsmission. Eine der Frauen hat Probleme mit ihrer Hüfte, braucht Hilfe beim Tragen ihres Gepäcks. Die andere Frau hilft ihr, und beide verschwinden aus den Räumlichkeiten. Eine Stunde später ist sie wieder zurück und bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Name: Luiserl. Diesen Namen gaben ihr andere „Berber“ auf der Straße. „Berber“, das ist eine Selbstbezeichnung der Obdachlosen für diejenigen von ihnen, die sich auf Reisen befinden. So auch Luiserl. Seit fünf Tagen ist sie in Passau, ihr gefällt es hier gut. Die 1968 geborene Ludwigshafenerin wuchs gut behütet auf, erlernte den Beruf der Gärtnerin, machte sich selbstständig. Bis ihr Deutschland zu eng wurde: „Ich hatte damals das Gefühl, das Leben geht an mir vorbei. Mich hat ein richtiges Reisefieber gepackt.“ Luiserl hat in Deutschland alles aufgegeben: „Ich wollte nicht mehr zurückkommen.“ Das Geld aus dem Verkauf ihres Hauses legte sie an, um sich ihre Reisen zu finanzieren. Ein Bekannter von ihr verwaltete es für sie. Zwei Jahre später war das Geld weg, der Bekannte entpuppte sich als Betrüger. Gezwungenermaßen zurück in Deutschland hielt sie sich mit kleinen Jobs über Wasser, bis sie in Norddeutschland zwei junge Männer traf. Diese brachten ihr den Lebensstil des Berbers näher. Seitdem reist Luiserl durch Deutschland. Ihr ist es wichtig zu betonen, dass sie freiwillig obdachlos ist. „Ich würde leicht eine Wohnung bekommen. Ich trinke keinen Alkohol, nehme keine Drogen und kann mich gut anpassen.“ Doch sie will keine Wohnung: „Ich passe in kein Mehrparteienhaus, keine Großstadt.“ Sie lebt vom Tagessatz Bürgergeld für Obdachlose, aktuell 18 Euro, und von Pfandflaschen. Sie erzählt von den Problemen der Obdachlosen und von ihren Wünschen.
Die Hilfsbereitschaft ist, laut Luiserl, in Deutschland vorhanden. Die Menschen spenden, geben Betroffenen Geld und Nahrungsmittel. Auch die Obdachlosen untereinander sind hilfsbereit. „Einmal hat mir ein Mann, der selbst auf Pfandflaschen sammeln angewiesen war, unter dem Tisch einer Bahnhofsmission, eine Tüte Pfandflaschen zugesteckt.“ Es sind diese kleinen Momente, die den Obdachlosen untereinander Hoffnung geben. „Als Obdachloser ist man einer großen Gefahr ausgesetzt: Der Einsamkeit.“ Richtige Freunde hat man auf der Straße nicht, es sind eher Zweckgemeinschaften. Vor allem Frauen schließen sich oft zusammen, um sich vor Übergriffen zu schützen. Die Prostitution macht nämlich auch vor Frauen, die auf der Straße leben, keinen Halt. Im Gegenteil: Die Notlage der Frauen wird ausgenutzt und gegen sexuelle Leistungen wird ihnen ein Dach über dem Kopf oder eine Dusche angeboten. Viele von ihnen gehen in Notunterkünfte. Dort treffen die Obdachlosen auf andere Probleme: „Bei der Caritas in Passau darf man sieben Nächte pro Monat übernachten, das ist ein großzügiges Angebot. In den meisten Unterkünften in anderen Städten in Deutschland darf man nur drei Nächte übernachten.“ Auch Luiserl nutzt das Angebot der Caritas Passau und schläft in der Herberge.
Graue Fliesen, weiße Wände, ein paar Bilder und ein Kalender hängen an der Wand im Flur. Tanja Ohrhallinger, Fundraiserin beim Caritas Verband für Stadt und Landkreis Passau, gibt eine Tour durch die Herberge für Obdachlose der Caritas. „Insgesamt haben wir zehn Schlafplätze, sechs für Männer und vier für Frauen.“ Jeweils zwei Zimmer mit Stockbetten aus hellem Holz, Metallschränken, dazu eine Couch und ein Tisch. Es gibt zwei Waschräume mit Duschen, Toilette und Waschbecken. „Unsere Verbrauchsmittel wie Duschgel und Waschmittel können wir günstig über einen Online-Shop beziehen.“ Es sind genau solche Strukturen, die die Arbeit der Caritas unterstützen, so Ohrhallinger. Es gibt außerdem einen kleinen Aufenthaltsraum, der mit Tischgruppen, einem Sofa und einem Fernseher ausgestattet ist. Hier können sich die Obdachlosen ab dem Einlass in die Herberge, um 19.00 Uhr, bis zum Schlafen gehen, aufhalten. Die drei Sofas, die sich in der Herberge befinden, dienen auch als Notschlafplatz.
„Wenn wir Platz haben, wird bei uns keiner abgewiesen.“
Neben den Räumlichkeiten für die Obdachlosen gibt es auch noch eine Küche und das Büro des Herbergsvaters, in dem sich neben einem Schreibtisch auch ein Bett und ein Fernseher befinden. Der Herbergsvater betreut die Herberge von Montag bis Freitag in der Nachtschicht, am Wochenende übernehmen Ehrenamtliche.
Wenn Luiserl nicht in einer Herberge unterkommt, dann schläft sie meist in ihrem Zelt. „Ich suche mir dann Orte, an denen ich niemanden störe, an denen man mich aber auch nicht so leicht findet.“ Meistens sind das Waldstücke, die etwas abgelegener von der nächsten Stadt sind. „Eine Nacht hat es so viel geschneit, da wurde mein Zelt eingedrückt. Ich war auch mal in Konstanz, da hat es einige Tage gewittert und ich musste unter einem Balkon schlafen da es im Wald einfach zu gefährlich gewesen wäre.“ Das macht sie allerdings fast nie. Sie achtet darauf, dass keiner ihre Schlafplätze findet, sie keine Spuren hinterlässt. „Als Berber eignet man sich seine Tricks an, um auf der Straße zu überleben.“ Beispielsweise Flaschen mit warmem Wasser an den Füßen, um im Winter nicht zu erfrieren, oder den Koffer zu vergraben, um im nächsten Jahr wieder Kleidung zu haben. „Obdachlose haben einen Mehrverbrauch an Kleidung, Schuhen und Jacken. Wir können die Winterjacke nicht einfach in den Schrank hängen, wir müssen sie mitschleppen oder entsorgen.“
Luiserl beschreibt ihr Leben auf der Straße als Parallelwelt, das macht auch Tanja Ohrhallinger, allerdings aus einer anderen Perspektive. Denn obwohl das Leben auf der Straße hart ist, gibt es Sachen, die die Menschen nicht aufgeben wollen. „Man sieht Obdachlose oft mit einem Hund und denkt sich dann, wenn du kein Geld hast, dann hab doch nicht noch einen Hund. Doch die Hunde sind für viele Obdachlose ein jahrelanger Weggefährte, der wichtiger Bestandteil des Lebens ist“, erklärt Tanja Ohrhallinger. Auch auf eine warme Mahlzeit wollen viele nicht verzichten, dafür gibt es die Suppenküche der Caritas, die sich im gleichen Gebäude wie die Herberge befindet. Dort werden von Montag bis Freitag ab 10.30 Uhr, 50 warme Mahlzeiten verteilt. Dabei helfen auch viele Ehrenamtliche. Die Kosten für die Mahlzeiten belaufen sich auf circa 10 Euro, 4,90 Euro für das Essen und der Rest für Nebenkosten. Bereits um 10.30 Uhr ist die Suppenküche voll. Auch Luiserl nutzt das Angebot der Suppenküche gern. An diesem Tag hat sie leider kein Glück, das Essen ist aus. Sie hat allerdings noch etwas in einem Schließfach in der Stadtgalerie. Luiserl wird Passau bald verlassen.
„Ich würde gern mal mit Politikern reden und erzählen, was auf der Straße los ist.“ Ihr ist es wichtig, eine Stimme für die Obdachlosen zu sein. Viele Betroffene wollen nicht darüber reden. Luiserl ist inzwischen im Reinen mit sich, schämt sich nicht mehr für ihre Geschichte.
„Die Probleme waren wie ein Schatten hinter mir. Man kann sie betäuben, aber es gehört Mut dazu, sich mit seinen Problemen zu befassen.“
Den Mut hat sie gefunden und damit geht sie in die Zukunft.