Begriffsdefinitionen:
Genderfluid = Menschen, mit einem „flüssigem“ Geschlecht, welches sich mit der Zeit oder in bestimmten Situationen ändert
Androgyn = Kombination männlicher und weiblicher Eigenschaften
Ich werde heute einige Normen brechen.
beginnt Jörg Trempler seinen Vortrag über die Genderfluidität in der christlichen Kunst der frühen Neuzeit. Das Licht im Vorlesungssaal wird gedimmt, denn nur so können Künstler denken, sagt er. Dann erscheint auf der Leinwand das Gemälde „Salvator Mundi“ von Leonardo da Vinci. Es ist das teuerste Bild der Welt – mit schlappen 450,3 Millionen US-Dollar. Darauf zu sehen ist ein Portrait von Jesus, der ernste Blick dem Betrachter zugewandt, die rechte Hand mit segnender Geste erhoben.
Trempler hatte das Bild unzählige Male betrachtet und studiert bevor ihm der Kunsthistoriker Philipp Zitzlsperger die Augen öffnete. Unsere Sehgewohnheiten verfestigen sich nämlich schnell und wir vergessen unsere Weltansicht zu hinterfragen. Zitzlsperger warf etwas auf, was „Salvator Mundi“ in einem neuen Licht erscheinen ließ: Die eindeutig männliche Jesus-Figur auf dem Bild trage Frauenkleider.
Androgyne Tendenzen auf einem da Vinci Gemälde, das um 1500 entstand? Schwer zu glauben, doch sobald sich die Idee im Gehirn verfestigt hat, erscheint es glasklar vor einem. Der tief gelegene Ausschnitt des Salvator Mundi offenbart seinen Hals und Teil des Dekolletés. Das war sonst nur bei Frauendarstellungen, um die Zeit zu finden, da Männer stets mit hochgeschlossenen Kragen zu sehen waren.
Zwitter-Skulpturen: Hermaphroditen
Und es gibt noch weitere Beispiele für androgyne Kunst der frühen Neuzeit. Skulpturen von Hermaphroditen, heute besser bekannt als Zwitter, sind ebenfalls oft vorzufinden. Hierbei wurden die Gestalten der griechischen Mythologie mit sowohl männlichen als auch weiblichen Körperteilen gezeigt. Diese Kunstwerke sind immer noch Einzelfälle in einem Schwarm von binären Geschlechterdarstellungen, doch Trempler betont:
Wenn man seinen Blickwinkel einmal ändert, sieht man alles anders.
So offenbaren sich nachträglich immer wieder neue Aspekte beim Betrachten von alten Kunstwerken.
Unsere Faszination für Androgynität
Auch Marry Corry, eine Kunsthistorikerin der Oxford Brookes University in England, befasst sich mit dem Thema der Genderfluidität in der Kunst. Androgynie, sprich die Vereinigung männlicher und weiblicher Merkmale in einer Person, wurde schon immer als schön angesehen. Wir bewundern das Aussehen von weiblichen Männern und loben männliche Frauen. Die Faszination für Androgynität lässt sich auch noch in heutiger Zeit beobachten.
Heutige Relevanz
Vor ein paar Jahren begann die hitzige Debatte darüber, dass Kleidung keinem Geschlecht zugeordnet ist und jeder tragen kann, was er möchte. Nun wird androgyne Mode immer mehr normalisiert und erscheint sogar auf Covern von High-End Fashion Magazinen, wie Harry Styles im Kleid auf dem Cover der Vogue. Doch der Vortrag von Jörg Trempler zeigt eindeutig, dass Genderfluidität kein neues Phänomen des 21. Jahrhunderts ist, sondern bereits vor etlichen Jahrhunderten existierte. Da kommt die Frage auf, ob die aktuellen Diskussionen fast schon rückschrittlich sind.
Wer Interesse an diesem oder ähnlichen Themen hat, kann die Ringvorlesungsreihe „Diversity, Gender & Intersektionalität – Normalität – Bilder, Diskurse, Praktiken“ besuchen. Die Vorträge finden mittwochs von 18:15 bis 19:45 Ihr im Audimax Hörsaal 9 statt.