Unsichtbar, leise und unter dem Deckmantel der Alltäglichkeit
Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt.
Ein anstößiger Kommentar während eines Vier-Augen-Gesprächs, das Hinterherpfeifen auf dem Weg in den Hörsaal – geschlechtsbezogene Gewalt erfolgt häufig subtil, nicht selten wird sie von Täter:innen als ein „heutzutage darf man ja gar nichts mehr sagen“ abgetan. Laut der UniSAFE-Umfrage des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften erleben etwa zwei von drei Mitarbeitenden und Studierenden an Hochschulen mindestens eine Form von geschlechtsbezogener Gewalt.
Geschlechtsbezogene Gewalt und sexualisierte Gewalt
Geschlechtsbezogene Gewalt wird als jene Gewalttat, „die sich gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Einzelpersonen aufgrund ihres Geschlechts und/oder ihrer gesellschaftlich zugeschriebenen oder konstruierten Geschlechterrolle richtet“ (European Center for Constitutional and Human Rights), definiert. Sie umfasst sowohl körperliche, sexualisierte, psychische als auch wirtschaftliche Gewalt. Die Formen geschlechtsbezogener Gewalt können demnach von einer diskriminierenden Aussage bis hin zu einem sexuellen Übergriff reichen. Als Unterform der geschlechtsbezogenen Gewalt bezeichnet sexualisierte Gewalt jeden Übergriff, der durch sexuelle Handlungen oder Kommunikation gezielt erniedrigt. Bei sexualisierter Gewalt wird demnach Sexualität als Mittel zur Machtausübung genutzt.
Geschlechtsbezogene Gewalt im Hochschulkontext
Laut Anke Lipinsky, Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, sei geschlechtsbezogene Gewalt ein systemisches Problem, das wissenschaftliche Einrichtungen nicht weniger betreffe als andere Teile der Gesellschaft. An der Universität Passau ist die Stabstelle Diversity und Gleichstellung verantwortlich für die Themen sexualisierte Diskriminierung, Belästigung und Gewalt. Elena Bleyer ist Mitarbeiterin an der Stabstelle und unter anderem zuständig für die Belange der Frauenbeauftragten.
„Es trifft vor allem Frauen“
In ihrer Arbeit erlebt sie, dass das Thema noch immer mit einer sehr großen Scham und mit Ängsten besetzt sei. Aufgrund der Hell- und Dunkelziffer sei es zudem schwierig aussagekräftige Daten zu sammeln. Dennoch stellt Bleyer fest, dass es eine eindeutige Geschlechterdimension gebe: „Es trifft vor allem Frauen“. Dieser Aussage stimmt auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zu. „In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt“. Das BMFSFJ weist zudem darauf hin, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung fast doppelt so häufig körperliche Gewalt erfahren wie Frauen ohne Behinderung. Eine Studie des Bochumer Lehrstuhls zu sexueller Gewalt an Hochschulen kam zu dem Ergebnis, dass neben dem Geschlecht auch das Alter und ein möglicher Migrationshintergrund Risikofaktoren darstellen. „Je jünger die Studierenden sind, umso eher sind sie betroffen von sexualisierter Gewalt“, so Elena Bleyer.
Übergriffe gehen mehrheitlich von Männern aus
Wechselt man die Perspektive auf die Seite der Täter:innen, so lässt sich auch hier eine Geschlechterdimension feststellen. Statistisch gesehen gingen Übergriffe mehrheitlich von Männern aus, erklärt Bleyer. Täter:innen ließen sich zudem in allen sozialen Schichten und Berufsgruppen finden. Besonders gefährlich werde es, wenn ein ungleiches Machtgefüge zwischen Mann und Frau bestehe und dieses durch verschiedene Faktoren zusätzlich ins Schwanken gerate. Schwierige Lebensumstände wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit könnten dieses Gefüge ändern und zu Gewalt führen. Elena Bleyer betont: „Asymmetrische Beziehungsstrukturen bergen immer ein höheres Risiko für die Ausübung von sexualisierter Gewalt“.
Catcalling
Eine weit verbreitete Form der geschlechtsbezogenen Gewalt ist das sogenannte „Catcalling“, zu Deutsch „Hinterherpfeifen“. Catcalling bezeichnet verbale sexualisierte Gewalt im öffentlichen Raum und umfasst anzügliche Kommentare, Anhupen, Verfolgungen oder Ähnliches. Eine Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen macht das Ausmaß dieser Form der Gewalt deutlich: Mehr als die Hälfte der Befragten wurde aufgrund ihres Geschlechts beleidigt, war sexuellen Annäherungsversuchen, sexistischen und anzüglichen Bemerkungen ausgesetzt.
Mit Straßenmalkreide gegen sexualisierte Gewalt
Um auf dieses Problem aufmerksam zu machen, bildeten sich weltweit die sogenannten „Catcalls of“-Bewegungen. Paulina studiert Wirtschaftsinformatik und ist seit mehreren Jahren Aktivistin bei Catcalls of Passau. „Sobald sich eine Person mit einem Kommentar unwohl oder nicht mehr sicher fühlt, nehmen wir es als Catcall wahr.“ Betroffene können ihre Erfahrungen anonym an Catcalls of Passau senden. Die Aktivist:innen schreiben diese Äußerungen wortgetreu mit Straßenmalkreide an den jeweiligen Ort des Geschehens und veröffentlichen das Bild auf Instagram. Mit diesen Aktionen soll Betroffenen Mut gemacht werden. Ihnen wird gezeigt, dass sie nicht allein sind – und vor allem, dass sie Macht haben.
Auch wenn es nicht die Schuld oder Aufgabe der Betroffenen ist, haben sie das Bedürfnis aktiv etwas zu tun. Das Ankreiden ist eine Möglichkeit damit abzuschließen. Man hat es angesprochen, man hat es laut gesagt und nach dem Regen ist die Kreide wieder weg.
Paulina, Catcalls of Passau
Belästigungen auf dem Campus
Catcalling sei auch an der Universität Passau ein Problem. Mitarbeitende und Studierende informierten bereits in der Vergangenheit die Aktivist:innen über Belästigungen auf dem Campus. Ankreiden dürfen sie diese Vorfälle auf dem Universitätsgelände nicht. Betroffenen rät Paulina sich an die Frauenbeauftragten der Universität zu wenden und den Vorfall gegebenenfalls bei der Polizei zu melden. Eine Straftat ist Catcalling in Deutschland allerdings erst, wenn es mit Beleidigungen oder physischer Gewalt einhergeht.
„Der erste Schritt ist darüber sprechen zu können“
Die Universität Passau stellt Betroffenen von geschlechtsbezogener Gewalt die Möglichkeit sich an verschiedenen Stellen Unterstützung zu suchen. Zu den universitären Beratungsstellen zählen die Fakultätsfrauenbeauftragten, die Gleichstellungsbeauftragte, die Universitätsfrauenbeauftragte, die psychologisch-psychotherapeutische Beratungsstelle, die Schwerbehindertenvertretung, die Studierendenvertretung und das Bedrohungsmanagement. „Der erste Schritt ist darüber sprechen zu können“, so Elena Bleyer. Die nachfolgenden Schritte seien individuell und an den Wünschen der Betroffenen orientiert. So können zum Beispiel weitere Gespräche vereinbart werden oder es wird Kontakt zu außeruniversitären Einrichtungen hergestellt. Je nach Fall und Wunsch der Betroffenen kann auch die Kommunikation mit der Polizei eingeleitet werden. „Die Betroffene entscheidet welche Schritte gesetzt werden, die Beratungsstelle macht nur ein Angebot.“, betont Bleyer. Die uniinterne Beratung hat Zuständigkeit bei Vorfällen, die sich innerhalb des Campus abgespielt haben. Bei Taten außerhalb des Unigeländes kann die Beratung auf externe Einrichtungen wie zum Beispiel die Antidiskriminierungsstelle des Bundes verweisen.
Mehr Aufmerksamkeit für sexualisierte Gewalt an der Universität
Paulina kritisiert, dass die Kommunikation der Angebote an der Universität nicht ausreichend transparent sei. Hilfreiche Maßnahmen existierten zwar, jedoch höre man zu wenig darüber. Für viele Betroffene von geschlechtsbezogener Gewalt ist der Schritt sich Unterstützung zu suchen mit einer großen Überwindung verbunden. So meldeten nur 13% der befragten Betroffenen in der UniSAFE-Umfrage den Vorfall einer offiziellen Stelle. Umso wichtiger ist es, dass Angebote zur Unterstützung für jede:n ersichtlich sind. Elena Bleyer erklärt, dass das Team der Stabstelle daran arbeite, die Informationsangebote auszubauen. „Das Thema soll jetzt verstärkt Aufmerksamkeit bekommen“. Seit Ende November gibt es neue Flyer, Sticker und Notfallkärtchen, die unter anderem im Juridicum und der Zentralbibliothek ausgelegt sind. Detaillierte Informationen können Studierende online auf der Seite der Stabstelle für Diversity und Gleichstellung finden. Zudem fand am 5.Juni eine Podiumsdiskussion zu sexualisierter Diskriminierung, Belästigung und Gewalt im Hochschulkontext statt. „Wir hoffen, dass das Thema durch die verschiedensten Angebote mehr in den Fokus rückt“, so Elena Bleyer.
Geschlechtsbezogene Gewalt hat viele Gesichter. Sie befindet sich mitten in unserer Gesellschaft – im Supermarkt, im Hörsaal oder im eigenen Zuhause. Sie verläuft oft unsichtbar, leise und versteckt sich unter dem Mantel der Alltäglichkeit. Dabei darf man nicht vergessen: geschlechtsbezogene Gewalt ist nie „nur ein Witz“, sie ist ein strukturelles Problem. Paulina von Catcalls of Passau ist sich sicher:
Es ist nicht leicht solche Themen anzusprechen, aber darüber reden hilft. Aufmerksamkeit bringt Licht auf das Thema.
Hilfsangebote für Betroffene:
Akute Bedrohungslage:
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Polizeinotruf: 110
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Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 116 016
Außeruniversitäre Beratungsstellen für Angehörige und Betroffene von geschlechtsbezogener Gewalt:
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Die Beratungsstelle Frauennotruf München richtet sich an alle Frauen und Mädchen, die Vergewaltigung, Grenzverletzungen und sexuelle Belästigung erlebt haben. Die Einrichtung bietet persönliche Beratung, Onlineberatung und ein Krisentelefon an.
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Um anonym zu telefonieren und chatten, könne sich Betroffene an das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen Beratung ist dort in 18 verschiedenen Sprachen, Gebärdensprache und leicht verständlicher Sprache möglich.
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Zudem bietet die Antidiskriminierungsstelle des Bundes umfangreiche Informationen und Kontakt zu Beratungsstellen für Betroffene von Diskriminierung und geschlechtsbezogener Gewalt an.
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Im Falle einer Straftat bietet der Weiße Ring ein anonymes Opfer-Telefon und dessen Außenstelle Passau persönliche Beratungen.
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Frauen, die akute oder drohende seelische oder körperliche/sexuelle Misshandlung erleben, können nach einem telefonischen oder persönlichen Erstkontakt Schutz im Frauenhaus Passau finden oder eine ambulante Beratung in Anspruch nehmen.
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Basis praevent ist eine Beratungsstelle für Männer, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Die Beratung kann anonym stattfinden und ist über Skype oder Telefon möglich.
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Unterstützung speziell für queere Menschen bietet rosa strippe mit einem Krisen- und Informationstelefon wie einer E-Mail-Beratung.
Universitäre Beratungsstellen:
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Internetseite der Stabstelle Diversity und Gleichstellung zu den Themen Diskriminierung, Sexuelle Belästigung, Stalking und Mobbing
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Universitätsfrauenbeauftragte und Fakultätsfrauenbeauftragte
Catcalls of Passau: Instagram @catcallsofpassau