Ich halte mich für einen offenen Menschen. Außergewöhnliche Persönlichkeiten oder skurrile Lebensstile haben auf mich eine merkwürdige Anziehungskraft. In Passau, wo höchstens (und das leider nun auch schon viel zulange nicht mehr) eine Bootsparty die behäbige Ruhe und niederbayerische Verschlafenheit durchbricht, sticht mir bei einem Spaziergang in der Altstadt ein Schild ins Auge: „Hexenwerk“, darunter gelistet allesamt esoterische Produkte und hexische Kurse, im Schaufenster des Ladens Hexenhut und Hexenkessel. Dass das Hexenwerk längst nicht der einzige Hexenladen in Passau ist, finde ich später heraus. In der Innstadt bietet auch eine andere Hexe eine Anlaufstelle für Gleichgesinnte an. Passau und Hexen? Höchstens die morgens über den drei Flüssen aufsteigenden Nebelschwaden passen hier ins Bild. Um herauszufinden, ob Passau eine heimliche Hexenhochburg ist, kontaktiere ich die beiden Passauer Hexen, Lucia Moiné und Angelika Putz. Frau Putz lädt mich in ihren Hexenladen ein, in ihrer E-Mail Signatur steht hinter ihrem Namen „Hexe Murana“.
Ein kleines, blaues Haus im Innstadtkellerweg. Das Schild verrät mir, dass ich hier Muranas Hexenladen finde. Die Tür öffnet mir eine kleine Frau. Sie trägt ein schwarz-rotes Mittelaltergewand aus Samt, die ausladenden Fledermausärmel ihres Kleids schwingen in der Luft als sie mich freundlich begrüßt. Ich folge ihr die enge Wendeltreppe hinauf, vorbei an Regalen voll Büchern, ätherischen Ölen, Flacons und Glaskugeln. Oben angekommen setze ich mich ihr gegenüber an einen Tisch, zwischen uns eine Glaskugel und Merlin, ihre Katze, die immer wieder auf den Tisch springt und sich dort rekelt. „Hier halte ich oft meine Kurse ab oder lege Karten“, erklärt Angelika Putz über den Rand ihrer Brille hinweg, die ganz vorne auf ihrer Nase sitzt. Karten legt sie seit 30 Jahren, zuerst eher für sich selbst. Als sie nach ihrer gescheiterten Ehe Rat sucht, ersteht sie ihr erstes Kartenset in der Passauer Altstadt, das Tarot der weißen Frauen. Um allerdings wirklich an sich zu glauben und ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen, braucht sie einen letzten Anstoß aus dem Jenseits. Bei einem Channeling-Abend 1996 rät ihr das Medium, endlich das zu machen, was sie wirklich will und so gibt Putz ihren Dessousladen auf und gründet den Hexenladen “Naturzauber“.
Als ich Angelika Putz frage, was eine Hexe ausmacht, lacht sie. „Man ist einfach anders!“ Dass sie außergewöhnlich ist, habe sie schon als Kind gespürt. Schon da war sie andersdenkend und durchschauend, wie sie sagt. „Hexe kommt vom mittelhochdeutschen Wort Hagazussa und bedeutet so viel wie die Zaunreiterin, die in andere Welten blicken und so Magisches bewirken kann.“ Sie zieht ein großes schwarzes Buch heraus, ihr Buch der Schatten, in dem sie handschriftlich ihr Hexenwissen festhält. „Schon als Kind habe ich mehr gesehen und gespürt als Andere und Dinge hinterfragt. Wenn meine Mutter mir damals gesagt hat, dass man dies und jenes nicht darf, habe ich die ganzen Zwänge, die einem von der Gesellschaft auferlegt werden, und das materialistische Denken nicht verstehen können.“ Lieber flüchtet sie sich als Kind in die Natur, beschäftigt sich mit sich selbst und den Bäumen, studiert stundenlang, wie die Grashalme im Wind wiegen und stellt sich vor, selbst ein Grashalm zu sein. Für mich klingt das wie Meditieren oder Spiritismus. Angelika Putz praktiziert diese Denkweisen, bevor sie überhaupt weiß, wie man sie bezeichnet.
Du schaust so esoterisch aus, hat mal einer zu mir gesagt. Ich musst’ erst im Duden nachschauen, was das heißt. Ich dacht’ erst das sei irgendeine Krankheit. Da hab ich festgestellt, dass ich Esoterik und Schamanismus schon immer gelebt habe ohne die Begriffe überhaupt zu kennen.
Für Angelika Putz gibt es mehr zwischen Himmel und Erde. Als Kind wollte sie unbedingt das Negative wegzaubern. Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass sie mit ihren Ritualen und Sprüchen für sich etwas bewirken kann. Sie erzählt mir einige Geschichten über ihre Erfolge als Hexe. Als an einem Samstagnachmittag eine Metallband ein Konzert in der Innstadt gibt, wünscht sie ein Unwetter herbei, denn für die Hexe ist Heavy Metall Krach. Auf einmal regnet es 20 Minuten wie aus Kübeln, es blitzt sogar. „Dann war a Ruah“, sagt die Hexe. „Hab das jetzt ich herbeigezaubert? War das Zufall oder meine Kraft?“, fragt sie schelmisch und muss schmunzeln. Danach habe wieder die Sonne geschienen. Angelika Putz hat eine blühende Vorstellungskraft. Gedanklich versetzt sie sich an andere Orte, nimmt Kontakt mit ihrem Schutztier auf oder wünscht sich Dinge visuell herbei und wie sie so erzählt, habe auch ich direkt ein Bild vor Augen, so mitreißend und detailreich kann die ältere Frau erzählen.
Zum Abschluss unseres Treffens legt mir Angelika Putz die Karten. Lange und gekonnt mischt sie die 36 Lenormand-Karten, bevor ich drei Stapel bilden darf. Ein Blick auf die unterste Karte dieser Stapel zeigt den Storch (Veränderung), die Fische (Finanzen) und den Brief (Kommunikation). Als sie mein gesamtes Kartenbild auslegt, sagt sie zu jeder Karte etwas, zeigt mögliche Interpretationen auf, sagt oftmals Dinge, die ich nicht auf mich beziehen kann, aber mindestens genauso oft Tendenzen, in denen ich mich wiederfinde. Verstehen kann ich in jedem Fall den Reiz des Kartenlegens, es fühlt sich besonders an, von einem anderen Menschen etwas über sich zu erfahren, es ist ein Moment, in dem man sich selbst und anstehende Entscheidungen reflektiert, ein gewisser Nervenkitzel.
Als ich Angelika Putz auf die andere Passauer Hexe anspreche, winkt sie ab. Sie sei eine alleinfliegende Hexe. Der geheime Passauer Hexenbund bleibt wohl ein Hirngespinst meinerseits. Dennoch will ich auch mit Lucia Moiné sprechen. Wir telefonieren. Auf meine Frage, ob es in ihrem Hexenwerk Hexen gibt, lacht sie. „Das ist Definitionssache, aber man darf mich als solche bezeichnen, warum nicht.“
Lucia Moiné interessiert sich für Kräuterheilkunde, Kartenlegen, Pendeln und Zaubertränke, vor allem aber für das Paranormale. Seit 2009 veranstaltet sie die „Spuknacht“ in Passau, für einige Entertainment (so kommen manchmal Zahnarztpraxen zum Betriebsausflug zu Moiné), für andere Geisterjagd mit Kontaktmöglichkeit zum Übernatürlichen. Für ihre Spuknacht fährt sie gerne auf das Schloss Fürsteneck. Dort fand 1703 die letzte Hexenverbrennung in der Region statt, seitdem soll dort die „Weiße Frau“ spuken. Ausgestattet mit verschiedenen Messgeräten, Videokameras mit Nachtsichtmodus, Aufnahmegeräten und der Spiritbox, einem Gerät, das sämtliche Radiofrequenzen durchforstet, erkundet sie mit ihren Tourteilnehmern die alten Gemäuer. Übernatürliches hat sie dabei schon oft erlebt. Auf einer Videoaufnahme bewegt sich ein Gegenstand wie von Zauberhand, Teilnehmer sehen Gestalten vorbeihuschen oder werden von Geisterhänden berührt, die Geräte schlagen aus. Im Schloss Ortenburg, einer anderen Eventlokation der Geisterjäger, fallen Kugelschreiber von der Decke und das an zwei verschiedenen Abenden.
Dennoch bezeichnet sich Moiné als „skeptische Hexe“. „Ich bin keine typische Hexe, ich glaube nicht an viele esoterische Sachen, vermutlich auch wegen meiner akademischen Ausbildung.“ Sie ist promovierte Archäologin. Wie man Wissenschaft und Hexe-sein kombinieren kann, weiß sie selbst nicht so ganz, das sei tatsächlich schwierig. Sie hat viel erlebt, was wissenschaftlich einfach nicht zu erklären ist.
Ich habe schon viel Merkwürdiges erlebt in den Spuknächten, ich kann nicht alles erklären, ich kann aber auch nicht ausschließen, dass es eine Erklärung gibt. Ich würde mir wünschen, dass es etwas Paranormales ist. I want to believe!
Auf ihrer Geisterjagd stellt Frau Moiné auch Fragen an die geschichtsträchtigen Gemäuer und bekommt oft mit den verwendeten Utensilien intelligente Antworten zurück. „Wie ist dein Name? Und dann kommt ganz deutlich: Anna. Das finde ich dann schon erstaunlich.“ Als skeptische Hexe führt sie aber auch sogleich ein mögliches Erklärungsmodell an. Es könne natürlich sein, dass Radiofrequenzen aufgenommen werden, aber in ihren zwölf Jahren Spuknacht hätte sie noch nie Musikfetzen auf ihren Aufnahmen gehabt. Das wäre ja dann unlogisch.
Auch Moiné legt Karten in ihrem Hexenwerk. „Oft kommen die Leute mit konkreten Fragen zu mir, meist geht es dabei um Liebe, welchen Mann soll ich wählen, werden meine Gefühle erwidert und so weiter. Ich versuche den Leuten eine Antwort zu geben, mache das aber nicht imperativ. Sie selbst müssen eine Entscheidung treffen und sich auf ihren Verstand verlassen“ – Frau Moiné ist eben eine akademische Hexe. Sie sieht sich beim Kartenlegen als Hobbypsychologin. „Es geht ganz viel darum, den Leuten zu zuhören und ihnen Zeit zu schenken. Viele sind sehr alleine.“ Dennoch ist oft eingetreten, was ihr die Karten gezeigt haben. Wie sie mir erzählt, ist sie dann selbst immer ganz baff, denn da ist ja diese kleine skeptische Stimme in ihr.
Wegen Corona ist Moinés Hexenladen gerade geschlossen. In Passau sei es schwierig mit einem solchen Laden. „Ich sage immer, wenn ich einen Porno drehen würde, wäre das eher akzeptiert, als mit den Geistern zu kommunizieren, das ist ja ein extremes Tabu in diesem Land und dann noch dazu in Passau.“ Sie musste sich schon viele Beleidigungen anhören. Die Zeugen Jehovas und eine andere christliche Sekte haben ihr schon heimlich aufgelauert, sie bedroht und vor Satan gewarnt. Wenn das für Lucia Moiné nicht besorgniserregend wäre, wäre es durchaus schon wieder witzig.
Bevor wir auflegen, sagt Moiné, sie würde sich vielleicht doch eher als kleines Hexchen bezeichnen. „Es gibt ein breites Spektrum, Vollblutesoteriker und absolute Skeptiker, und eben auch sehr viel dazwischen.“ In meinen Gesprächen mit den beiden Passauer Hexen habe ich einen Einblick in diese Bandbreite erhalten und weiß, was Frau Moiné mir damit sagen will. Nicht für jeden bedeutet es dasselbe, Hexe zu sein. Eins haben die zwei Frauen dennoch gemeinsam: Sie wollen nicht ausschließen, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde.