Was früher noch als Sport für Proleten und Gefängnisinsassen galt, ist heute ein Breitensport geworden. Mehr als 10 Millionen Deutsche sind mittlerweile in Fitnessstudios angemeldet. Flexible Öffnungszeiten und zahlreiche Optionen der körperlichen Aktivität kommen vielen entgegen. Doch geht die Entwicklung des Fitness-Sports einher mit der des Bewusstseins für unsere Gesundheit? Oder ist es schon ein Zwang, um in unserer modernen Gesellschaft noch anerkannt zu werden?
Zwei Autoren, zwei unterschiedliche Meinungen.
An Primitivität und Unmündigkeit nicht zu überbieten
Januar und Februar. Die zwei Wintermonate nach Weihnachten, in denen Tausende ihre guten Vorsätze erfolgreich umsetzen wollen und den Fitnessstudio- Betreibern ihr hart verdientes Geld in den Rachen werfen. Angetrieben von den zahlreichen Diät-Werbungen im Fernsehen, in welchen abgemagerte Models diesen und jenen Proteinshake empfehlen, durchtrainierten Männern, denen Frauen um den Hals fallen und Fitnessstudios, den Zuschauern ihre Billig- Angebote penetrant anpreisen.
Die Spots laufen meist auf ein und dieselbe Aussage hinaus: Trainiere, und du hast Erfolg. Erfolg in der Liebe, im Job und außerhalb. In Zeiten, in denen wir so oft predigen, es komme nicht nur auf das Aussehen an, sondern die inneren Werte seien mindestens genauso wichtig, ist ein wahnsinniger Körperkult entstanden. Eine gesündere Lebensweise hin oder her – jeder, der schon mal einen Fuß in ein Fitnessstudio gesetzt hat, weiß, dass diese ein wertefreier Raum sind. Sämtliche Charaktereigenschaften, wie Humor, Großzügigkeit oder Toleranz, müssen weichen. Sie stehen nun im Schatten des prägnantesten und wichtigsten Merkmals dieses Territoriums: dem Bizepsumfang.
Hier ist es egal, ob du die Schule abgebrochen und nun im Einzelhandel tätig bist, studiert hast und gut verdienst oder gerade die Relativitätstheorie widerlegt hast: Ist dein Bizeps groß, das Kreuz breit, der Bauch stahlhart: Gut. Eines davon nicht der Fall: Schlecht. Klingt nicht nur primitiv und stark simplifiziert, ist es auch. Aber entspricht dennoch durchaus der Realität.
Natürlich findet kein direkter Wettkampf statt und nicht jeder im „Gym“, wie es als richtiger Pumper wichtig zu sagen ist, hat dauerhaft dieses Konkurrenzdenken. Doch es kann keiner leugnen sich nicht ein bisschen gedemütigt zu fühlen, wenn man sich bei vier Sätzen Bankdrücken mit 60kg abackert und der Typ danach die Scheiben zum Aufwärmen gleich auf der Stange lässt.
Als Frau sieht die Sache da etwas anders aus. Gewichte sind zweitrangig, schließlich entsprechen große Muskeln nicht gerade dem weiblichen Schönheitsideal. Frau verbringt viel Zeit auf sogenannten Cardio-Geräten. Oder altmodisch: Auf Aufwärmgeräten, sprich: Laufband, Stepper, Fahrrad oder DEM neuen Nummer Eins Fatburner-Gerät. Da wären wir auch schon beim Stichwort, denn die attraktive, erfolgreiche Frau hat heutzutage kein Kilo zu viel mehr auf den Rippen. Damit die weiblichen Rundungen jedoch nicht verloren gehen, widmet sie sich nach dem intensiven Aufwärmen ihrem Po. Die einzige Stelle, in der sie tatsächlich Muskeln aufbauen kann – ja, soll. Dass viele Übungen für diese Zone in ihren Bewegungsabläufen sexuelle Züge aufweisen wird die meisten (männlichen) Anwesenden wahrscheinlich nicht weiter stören, ein gewisses Schamgefühl wird trotzdem bei vielen Frauen dabei sein, anders wäre die Daseinsberechtigung von Fitnessstudios nur für Frauen nicht zu erklären.
Marionetten eines auf Oberflächlichkeiten ausgelegten Systems
Doch weg von den Symptomen des aktuellen Fitness-Hypes und hin zu den Ursachen. 2017 haben 15 Millionen Deutsche die App Instagram verwendet, ein Großteil der Nutzer ist zwischen 14 und 29 Jahre alt. Weltweit sind es sogar mehr als 800 Millionen Nutzer. Das Prinzip von Instagram muss an dieser Stelle nicht erklärt werden, im Vordergrund steht sowieso nur das eine: Selbstdarstellung.
Für das Errichten einer Fassade des perfekten Lebens ist diese Applikation wie geschaffen und gerade in der Modellszene ist sie für die berufliche Vermarktung mittlerweile unverzichtbar. Als „Influencer“ teilen Sie mit ihren tausenden Followern ihr verboten gesundes Frühstück am Strand der Karibik, künstliche Schnappschüsse und eben auch Bilder des durchtrainierten Körpers.
Wo sexualisierte Werbung schon lange Gang und Gebe ist, aber jeder zweite junge Erwachsene täglich Instagram nutzt, ist die App kein zu unterschätzender Faktor. Möchte ich als Mann bei Frauen wie Influencerin A eine Chance haben? Brauche ich einen Körper wie Influencer B. Möchte ich als Frau einen Typen wie Influencer B, muss ich aussehen wie Influencerin A. Eine absurde Wechselwirkung, durch die wir uns selbst in körperästhetische Sphären hochgeschaukelt haben, die ihre Umsetzung im Fitnessboom der letzten Jahre finden – beziehungsweise in den Taschen der Studiobetreiber.
Instagram ist mit Sicherheit nur ein Rädchen einer großen Maschinerie und Sport machen ist gesund und wichtig, das steht außer Frage. Doch das zwanghafte und ferngesteuerte Formen des eigenen Körpers nach Idealen einer durch Medien vermittelten Scheinwelt hat damit nichts zu tun. Wir sollten wieder vor allem uns selbst zu Liebe sportlich sein – und nicht weil die Gesellschaft uns dazu drängt.
Jonah Bleuel
Supersize Me 2.0
Unter dem Titel „Supersize Me“ ernährte sich der amerikanische Regisseur Morgan Spurlock 2004 einen Monat lang ausschließlich von McDonald‘s-Produkten. Das Ergebnis war so erwartbar wie schockierend: Der damals 32-Jährige nahm innerhalb der 30 Tage über 11 Kilo zu, sein Cholesterinspiegel stieg an.
Der gefilmte Selbstversuch sollte die Amerikaner in ihrem Ernährungsverhalten aufrütteln. Heute, knapp 15 Jahre später, hat sich zumindest hierzulande einiges geändert. Dennoch passt der Titel „Supersize Me“ weiterhin zu einem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen. Einem ganz anderen, als dem in Spurlocks Film: Statt im Umfang erweitern sich die Körper in die Breite. Aus aufgedunsenen Fettbergen sind straffe Muskelkorsetts geworden. Aus unendlicher Völlerei grenzenlose Fitness. Das andere Extrem: Nicht Fastfood, sondern „Lowcarb“ mit möglichst viel Eiweiß steht auf dem ausgetüftelten Speiseplan.
Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Splendid Research aus dem Jahr 2017 ergab, dass 50 Prozent der 20- bis 29-jährigen Deutschen vor allem Sport treiben, um besser auszusehen. Das erscheint logisch: Anders als bei gottgegebenen Makeln liegt die Muskulatur in der Hand des Menschen. Die schiefe Nase, die ausfallenden Haare oder die Körpergröße lassen sich nur schwer, teuer oder gar nicht beeinflussen, an das Schönheitsideal anpassen. Die oft medial inszenierte „Makellosigkeit“ kann man auf Ebene der Fitness selbst, das heißt ohne plastische Hilfe, erreichen. Vor chirurgischen Eingriffen graut es den meisten, der Gang ins Fitnesstudio ist weniger aufwendig, die Schwelle niedriger.
Aber man muss nicht gleich den Lebensmittelpunkt unter die Hantelbank verlegen: Gegen einen gesunden Lebensstil, eine bewusste Ernährung und viel Sport gibt es nichts einzuwenden. Schon der Wille und die Selbstdisziplin dazu sind bewundernswert. Allein das Bewusstsein für den Körper, welche Nahrung ihm gut tut, was ihm schadet, ist wertvoll. Die positiven Folgen sind so zahlreich wie offensichtlich, physisch sowie psychisch: Ein längeres, gesünderes Leben, die Attraktivität steigt, ebenso das Selbstvertrauen.
Oberflächlich?
An dieser Stelle lauert jedoch auch eine Gefahr, wenn Selbstvertrauen in Übermut und Angeberei entartet: In den sozialen Medien scheint der Bizepsumfang eine Art Maßeinheit fürs Ego geworden zu sein. Der Pfad zum Glück, er führe ins Fitnesstudio. Das Schönheitsideal „Arme wie Baumstämme“ ist auf Facebook, Instagram und Co. überrepräsentiert, das gesunde Maß derart weit entfernt, dass sich beinahe die Frage aufdrängt, ob ein erfülltes Leben ohne starke Oberarme, ohne Sixpack überhaupt möglich.
Der Druck auf den Social-Media-Nutzer ist ohne Frage groß. Mischwimmen, mithalten, mitpumpen? Es hilft der Blick auf sich selbst: Denn wie sooft heißt das entscheidende Stichwort Selbstbestimmung. Jeder Mensch entscheidet selbst, wer er sein, und eben auch, wie er aussehen möchte. Wenn man in seiner physischen Statur an einen Schrank erinnern möchte, dann ist das genauso okay, wie wenn dem äußeren Erscheinungsbild nicht alles unterworfen wird. Da ist es egal, was aufgepumpte Anabolika-Brecher in YouTube-Videos als erstrebenswert inszenieren oder Fernsehwerbungen propagieren. Über Schönheitsideale lässt sich streiten, über Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit nicht.
Eng damit verknüpft ist ein toleranter Umfang mit dem Lebensstil des anderen: Oft wirkt die Trennung unscharf, die Trennung zwischen Oberflächlichkeits- und Neiddebatte. Wer ist der Oberflächliche: Der muskelbepackte Kraftsportler oder derjenige, der ihn seines makellosen Körpers wegen als oberflächlich etikettiert?
Zurück zu Morgan Spurlock und den adipösen Amerikanern: Die Dokumentation wird von vielen Seiten angezweifelt. Spurlock habe nicht nur Hamburger und Pommes, sondern auch Steroide zu sich genommen um dramatischer zuzunehmen, heißt es unter anderem. Jene anabolen Steroide werden auch oft illegalerweise im Kraftsport verwendet, um schneller Muskeln aufzubauen.
Maßlos gesund, maßlos ungesund – Vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt.
Ben Balzereit