Der Podcast läuft seit drei Minuten und schon wird auf Pause gedrückt. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimmen kann“, sagt einer. „Ja, ich weiß auch nicht“, sagt eine andere. Das Thema ist Neuland für uns. Wir haben uns allesamt noch nie damit beschäftigt. Gefängnisse. Nicht unbedingt eine Thematik, die man üblicherweise auf der Innwiese bespricht. Jetzt müssen wir uns damit befassen. Wie würde unsere Gesellschaft ohne Gefängnisse aussehen?
„Wenn man in einem Unialltag ist, tut’s manchmal einfach gut wieder rauszugehen und groß zu denken.“ Groß denken. Dazu wollen Hannah Jäger, Miriam Kinzl und Julian Fischer, Studierende der Uni Passau, mit ihrem selbst-entwickelten Kartenspiel animieren. „Lieberté“, das ist der Name ihres Start-ups, das sie im Rahmen des 5-Euro-Business-Wettbewerbs der Universität gegründet haben. Produziert wird zusätzlich zum Kartenspiel auch ein zugehöriger Podcast. Das große Thema: „Utopien“.
Schon wieder müssen wir pausieren. Als ein lautes „Was?“ über die Innwiese schallt, drehen sich einige Köpfe in unsere Richtung. Das Experteninterview in Form eines Podcasts trifft nicht immer auf Zustimmung. Wir fangen schon jetzt an, zu diskutieren. Oder vielmehr: zu hinterfragen.
Mittlerweile haben wir die ganze Podcastfolge gehört und sind bei der eigentlichen Diskussion angekommen. Wir haben die Pro- und Contra-Karten vor uns liegen und kämpfen um einen Einstieg in die Diskussion. Es fällt uns allen noch etwas schwer, unsere eigene Meinung erstmal links liegen zu lassen und uns für die Gegenseite zu öffnen. Wir sind eine Gruppe von Freunden, die im Kern dieselbe Weltanschauung teilen. Umso schwerer ist es, nicht sofort mit einem einseitigen Fluss an Argumenten zu starten. „Kennt ihr dieses Experiment, bei dem die Wände von Gefängnissen rosa gestrichen wurden? Das sollte beruhigend auf die Gefangenen wirken“, erzählt dann ein Mitglied der Gruppe. Plötzlich ist das Eis gebrochen.
Das Produkt des Start-ups richtet sich vorwiegend an junge Leute und dabei vor allem an Schüler. Das Spiel besteht im Kern aus fünf Utopien aus verschiedenen Bereichen, über die im Verlauf des Spiels diskutiert werden soll. Dabei ist thematisch vieles geboten: vom Grundeinkommen über Bildung und Schule von morgen bis hin zu einer Welt ohne Gefängnisse deckt das Spiel viele gesellschaftliche Konfliktherde ab. Denkanstöße für die Diskussionen liefern Podcastfolgen, zu jeder Utopie eine und zusätzlich zwei allgemeine Folgen. Im Podcast sprechen Experten über die Utopien und legen ihren Standpunkt dar. Anschließend wird in Gruppen diskutiert. Hilfestellung bieten Pro- und Contra-Karten für jedes Thema. Jeder Spieler nimmt eine Seite der Diskussion ein. Diese wird jedoch nicht frei gewählt, sondern zugelost. Das Ziel ist dabei, Menschen dazu zu bewegen, sich auch mit der anderen Seite zu beschäftigen und sich zu öffnen für neue Argumente. Zum „um die Ecke denken“ wolle man motivieren, so Hannah Jäger. Gerade Schülern wolle man es ermöglichen, „schon früher anders denken zu lernen“. Ziel ist es, das Spiel in Schulen zu bringen. Dort wäre es möglich, Projekttage zum Thema „Utopien“ zu gestalten und das Spiel mit einzubeziehen. Für Hannah wäre es besonders schön, selbst in die Klassen gehen zu können, um mit den Schülern das Spiel zu spielen.
Die Diskussion ist in vollem Gange. Wir haben uns anfangs zumindest grob in die beiden Seiten aufgeteilt. Schon nach wenigen Minuten verschwimmen jedoch die Grenzen. Ein Mitglied der Contra-Seite findet plötzlich das eine oder andere Argument pro Utopie. Wir sind nicht überrascht, wie schnell sich die Diskussion verselbstständigt. Schließlich diskutieren wir auch sonst gerne. Etwas überraschend ist jedoch, wie wir langsam aber sicher auch mal wegkommen von unserer anfangs so festen Meinung. Immer wieder stolpern wir über Punkte, die wir so noch nicht bedacht hatten. Das bedeutet nicht, dass wir im Verlauf des Abends unsere Meinung komplett ändern. Aber wir reden über Dinge, die bei uns zuvor noch nie Gesprächsthema waren.
Das Projekt ist nicht allein in diesem Semester entstanden. Der Denkprozess, der dahinter steckt dauerte viel länger. Hannah und Miriam haben schon seit mehr als einem Jahr die Idee, ein kreatives Start-up zu gründen. Als Hannah dann im Auslandssemester Julian kennenlernt, kommen viele Ideen zusammen. „Wir wollten alle was gründen, wo es aber nicht darum geht möglichst viel Geld zu verdienen. Wir wollten etwas machen, was einen ideellen Wert hat.“ Die Herausforderung war schließlich, die einzelnen Ideen zu einer gemeinsamen zusammen zu führen. Gewünscht hätte sich die Gruppe dafür Kommunikationsseminare, die beim Teambuilding und – damit verbunden -bei der Suche nach dem gemeinsamen Nenner geholfen hätten. Hannah erklärt: „Man verwirft so viele Ideen an denen man aber auch lange gearbeitet hat.“ Es habe vorher etliche andere Versionen gegeben, die allesamt verworfen oder verändert wurden. „Jeder hatte eine ganz klare Vision, eine ganz klare Vorstellung.“ Überraschend einfach sei wiederum die technische Umsetzung der Idee gewesen. Der Podcast hat das Team vor weniger Schwierigkeiten gestellt als anfangs erwartet. Die inhaltliche Recherche der Utopien gestaltete sich währenddessen als wesentlich aufwendiger.
Wir sind mal wieder abgedriftet. Dieses mal zu psychischen Krankheiten und deren Heilung. Ab wann würde man die Resozialisierung eines psychisch Kranken als vollständig gelungen bezeichnen? Und wie kann man das erreichen? Fragen, um die wir uns lange bewegen. Das Ganze entwickelt sich zur Moral- und Ethikdiskussion. Irgendwann drehen wir uns im Kreis. Die Diskussion flacht langsam ab. Zu einer innovativen Lösung kommen wir nicht. Aber wir schaffen es, uns auf Punkte zu einigen, die wir alle gut oder schlecht finden. Wir kommen alle zu der Erkenntnis, dass wir gern in manchen Punkten mehr Durchblick hätten. Und dass wir doch gern an manchen Stellen besser informiert wären.
Der Wettbewerb endet offiziell am 16. Juli mit der Preisverleihung. Das Team von „Lieberté“ will aber weiter machen. Hannah, Miriam und Julian wollen ihr Kreativmedienprodukt über Stiftungen vertreiben. Das ist gerade in der Zeit der Corona-Pandemie etwas schwierig, aber sie hoffen, dass bald mit dem Kartenspiel diskutiert werden kann. Zum neuen Schuljahr wollen sie Kontakte knüpfen mit Schulen. Und wenn alles gut läuft, sollen weitere Editionen folgen. „Wir werden nicht reich mit dem Spiel, aber wir möchten alle, dass es möglichst viele Köpfe berührt.“
Unsere Diskussion endet irgendwann von selbst. Schon bald widmet sich unser Gespräch wieder anderen, leichteren Themen. Unsere Gedanken drehen sich wieder um den Alltag. Aber für eine Stunde an einem Mittwochabend haben wir alle über den Tellerrand geschaut.
Text: Tamina Friedl
Foto und Logo: Lieberté
Instagram: @lieberte_kartenspiel (Per DM könnt ihr das Kartenspiel auch vorbestellen)