Literaturklassiker: Eine Sozialstudie des 19. Jahrhunderts

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Bücherliebhaber in Besitz eines freien Platzes im Bücherregal nichts dringender braucht als die optimale Sommerlektüre. 

Weil die Suche nach besagter Lektüre neben Uni, Innwiese, Hobbys und Freunden viel Zeit beanspruchen kann und man dann letztendlich doch das ein oder andere Highlight der Literaturwelt leicht übersieht, wollen wir Euch helfen. In unserer neuen Reihe 

Klassiker, die man kennen sollte…

stellen wir Euch neben großen Legenden der Literatur und Büchern, die jeder kennt, auch unbekanntere Werke vor, die wir für lesenswert halten. Und damit die Cineasten unter Euch nicht zu kurz kommen, dürft Ihr Euch ebenso auf unsere Filmtipps freuen.

 

Sommerzeit ist für viele die Zeit, in der man sich mit einem locker-leichten Liebesroman an den See legen und ohne großen mentalen Aufwand ein paar (hundert) Seiten lesen kann. Da erobert die liebenswürdige Protagonistin das Herz ihres anfangs unsympathischen und verklemmten Gegenparts, er taut auf, sein weicher Kern kommt zum Vorschein und wir schmelzen dahin. Ein altbewährtes Prinzip der Liebesgeschichten. So altbewährt, dass schon im frühen 19. Jahrhundert  eine Liebesgeschichte dieser Art entstand, die von damals bis heute ein breites Publikum verzaubert: 

„Stolz und Vorurteil“ – Jane Austen

„Stolz und Vorurteil“ (im Original: „Pride and Prejudice“) ist eines dieser Bücher, von dem viele den Titel kennen, und auch der Name Mr. Darcy ist vielen ein Begriff. Aber wer das Buch in der Buchhandlung bei den Klassikern liegen sieht, traut sich vielleicht doch nicht, es mitzunehmen. Es ist eben ein Klassiker. Schreckliche Erinnerungen an Lektüren der Schulzeit werden wach. Nein, lieber wieder zurück in die Roman-Abteilung, mag da die erste Reaktion sein. Dabei ist „Stolz und Vorurteil“, wenn man sich erstmal darauf eingelassen hat, eine wahre Lesefreude.

Zum Inhalt: Die Hauptprotagonistin Elizabeth Bennet lebt zusammen mit ihrem Vater, ihrer neurotischen Mutter und ihren vier grundverschiedenen Schwestern im Longbourn Anwesen in Hertfordshire, Großbritannien. Ihre Mutter hat genau ein Ziel: sie möchte die fünf Schwestern so schnell (und so reich) wie möglich verheiraten. Koste es, was es wolle. Dabei spielen ihr die Ereignisse am Anfang des Romans in die Karten. Ins benachbarte Anwesen Netherfield Park zieht ein wohlhabender Junggeselle, Charles Bingley, zusammen mit seiner Schwester und seinem besten Freund Fitzwilliam Darcy ein. Eine perfekte Partie für eine ihrer Töchter, denkt sich Mrs. Bennet und zögert nicht lange, ihre Mädchen dem ausgeschriebenen Mann der Träume vorzustellen. Ihr Plan geht zunächst auf, denn zwischen der ältesten Schwester Jane und Bingley scheint sich etwas anzubahnen. Elizabeth hat währenddessen weniger Glück. Sie hat einige Male das Vergnügen mit dem griesgrämigen Mr. Darcy, der von ihr ebenso wenig hält wie sie von ihm. Als dann auch noch der schmierige Mr. Collins und der scheinbar charmante und attraktive Mr. Wickham ins Spiel kommen, ist Elizabeths Chaos perfekt. Schnell stellt sich die Frage, was hinter den Fassaden der Männer steckt. Ist Fitzwilliam Darcy wirklich so unausstehlich, wie man meint? Versteckt sich unter der harten Schale wirklich kein weicher Kern? Zwischen Bällen auf Netherfield, Ausflügen ins Dorf, Schwesterndramen und mütterlichen Neurosen werden Intrigen der Vergangenheit aufgedeckt und neue gesponnen. Und natürlich liegt die ein oder andere Romanze in der Luft. Kein Wunder bei fünf Schwestern und jeder Menge Junggesellen.

 

Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass ein alleinstehender Mann im Besitz eines gewissen Vermögens auf der Suche nach einer Frau sein muss.  – Jane Austen

 

„Stolz und Vorurteil“ hat mittlerweile gute 200 Jahre auf dem Buckel und trotzdem kann sich der moderne Leser in der Geschichte selbst wiedererkennen. Der wird zwar kaum jede Woche auf einem Ball tanzen, aufstehen und sich verbeugen, sobald jemand den Raum betritt, zum Stoffbänderkauf ins nächste Dorf marschieren oder einen quasi Wildfremden heiraten, aber im Endeffekt geht es doch nur um fünf junge Frauen, die ihren Alltag bestreiten, sich in guter Gesellschaft aufhalten und sich verlieben wollen. Besonders die Hauptperson Elizabeth hat einen inspirierend starken Charakter. Sie weiß von allen am besten, was für sie richtig ist, und artikuliert ihre Meinung dementsprechend. Sie wehrt sich gegen die Kupplungsversuche ihrer Mutter, verläuft sich zwar zwischenzeitlich einige Male und kommt an ihre Grenzen, aber bleibt so unabhängig, wie es in ihrer Zeit möglich war. Die Beziehung zu ihrer älteren Schwester Jane ist sehr tief und liebevoll und wird im Roman oft hervorgehoben. Allgemein spielt die familiäre Situation der Bennets permanent eine große Rolle, wodurch man einen guten Einblick in das alltägliche Leben einer Familie im 19. Jahrhundert erhält. Der Roman stützt sich stark auf zwischenmenschliche Beziehungen, gerade zwischen den Bennet-Schwestern und den Herren Bingley und Darcy. Das zeigt unter anderem, wie anders sich eine Romanze damals im Vergleich zu heute entwickelte – literarisch betrachtet, aber auch in der Realität. Als Leser baut man schnell eine Bindung zu den Charakteren auf, besonders zu Elizabeth, um die sich die Geschichte hauptsächlich dreht. Trotz der zeitlichen Distanz zwischen ihr und uns fällt es leicht, sich mit ihr und den anderen Hauptcharakteren zu identifizieren. 

Sprachlich betrachtet unterscheidet sich „Stolz und Vorurteil“ natürlich vom heute handelsüblichen Liebesroman. Das sollte jeder im Hinterkopf behalten, der überlegt, das Buch in Angriff zu nehmen. Man wird zum Lesen etwas länger brauchen, gerade, wenn die Entscheidung auf das englische Original anstatt auf die Übersetzung fällt. Dementsprechend könnten die ersten Kapitel erstmal etwas langatmig erscheinen, was der Kombination aus für uns ungewohnter Sprache und eher langsam anlaufender Handlung geschuldet ist. Wenn man sich aber erstmal in die Geschichte eingefunden hat, ist sie sowohl kurzweilig als auch hoch unterhaltsam. Jane Austen beherrschte die Kunst der versteckten Ironie perfekt. Besonders Elizabeth verlieh sie einen oft leicht bissigen Humor, den der Leser manchmal erst nach ein paar Sekunden als solchen wahrnimmt und der sie als Person nur umso intelligenter und interessanter macht. Auch Darcy glänzt mit einigen intelligenten und zugleich unterschwellig kritischen Kommentaren. Offensichtlich unterhaltsam sind dagegen besonders die Darstellungen von Mrs. Bennet und Mr.Collins, die beide eher mit Einfältigkeit glänzen. 

 

Stolz und Eitelkeit sind zwei verschiedene Dinge, doch die beiden Wörter werden oft gleichbedeutend gebraucht. Ein Mensch kann stolz sein, ohne eitel zu sein. Stolz bezieht sich eher auf die Meinung, die wir über uns selbst hegen, Eitelkeit auf das, wovon wir uns wünschen, dass es andere über uns denken. – Jane Austen

 

Zusammengefasst ist „Stolz und Vorurteil“ mehr als der klassische Liebesroman, als den ihn viele eingespeichert haben. Neben den gut gezeichneten romantischen Momenten bietet das Buch vor allem einen Einblick in das Leben im England des 19. Jahrhunderts, in sämtliche Konventionen und Gepflogenheiten. Wenn man auch etwas Zeit braucht, um mit der Sprache und der Art der Geschichte zurechtzukommen, lohnt es sich auf jeden Fall dran zu bleiben. Jeder wird aus dem Roman seine eigenen Erkenntnisse mitnehmen und sei es nur, dass die klassischen Buchhelden letztendlich doch die Besten sind. Auf jeden Fall wird man, wie bei jeder guten See-Lektüre, den verträumten Seufzer hier und da nicht vermeiden können. Das Phänomen Mr. Darcy ist, so viel sei gesagt, nicht umsonst noch heute weltbekannt. 

Wer eher ein Lesemuffel ist, jetzt aber trotzdem neugierig geworden ist, hat einige Adaptionen zur Auswahl. Besonders zu empfehlen sind dabei die BBC Miniserie mit Colin Firth und der Spielfilm von 2005 mit Keira Knightley. Wer nach dem Lesen wiederum so begeistert ist, dass auch die Filme nicht mehr reichen: es gibt mittlerweile viele moderne Neuerzählungen von „Stolz und Vorurteil“. Sehr unterhaltsam sind dabei zum Beispiel „Eligible“ von Curtis Sittenfeld oder die YouTube-Serie „The Lizzie Bennet Diaries“. 

 

Beitragsbilder: Tamina Friedl