Von Gewächshäusern und Scheunen
1939 veröffentlichte William Faulkner seine Kurzgeschichte Barn Burning. 1983 schrieb der japanische Autor Haruki Murakami seine neun Jahre später im The New Yorker unter demselben Namen veröffentlichte Kurzgeschichte. In deutscher Sprache Scheunenabbrennen genannt, war Murakami beim Schreiben von Faulkners Klassiker inspiriert. 2018 kam der Film Burning des Regisseurs Lee Chang-dong in die Kinos. So stellt Burning die koreanische Filmadaption einer japanischen Kurzgeschichte dar, die wiederum davor von einer amerikanischen Geschichte inspiriert wurde.
Haruki Murakami ist hierzulande kein unbekannter Name. Mit mehreren Bestsellern sowohl innerhalb Japans als auch in Übersee und mit Übersetzungen in mehr als 50 Sprachen ist es keine Überraschung, ein Murakami Buch in jemandes Bücherregal zu sehen.
Aber auch im Kino ist Murakami am Kommen. Mit dem diesjährigen Oscar-Gewinn für den besten internationalen Film, Ryusuke Hamaguchis Drive My Car, fand nach Burning eine weitere Kurzgeschichten-Adaption des japanischen Autors internationale Anerkennung.
Burning ist als Murakami-Adaption insbesondere dadurch interessant, dass es sich nicht bloß um eine Übersetzung Murakamis Stils von Schrift in bewegtes Bild handelt, sondern dass das Werk gleichzeitig auch 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung von der japanischen in die südkoreanische Kultur übersetzt wurde. Es stellt sich die Frage: Wie passt Lee Chang-dong Murakamis Stil und Vorlage an die moderne südkoreanische Gesellschaft an?
Was macht einen Murakami?
Einsamkeit, gewöhnliche Leben, Jazz und klassische Musik, das Schreiten durchs Leben ohne großes Ziel. Die meisten Murakami Romane, aber auch Kurzgeschichten sind sich in ihren Grundzügen äußerst ähnlich. Oft geht es in der Hauptrolle um Männer. Ob Männer im Studium oder Männer mit jahrelanger Berufserfahrung im mittleren Alter. Männer mit einer Vorliebe für Whisky und Schallplatten. Männer, die gerne schwimmen, Männer mit künstlerischer Begabung, aber wenig Passion für das Ausleben ihrer Kreativität. Den Protagonisten in Murakamis Geschichten fehlt immer irgendetwas. Sie teilen von innen heraus meist diese eine Gemeinsamkeit: Sie sind leer.
Genauso oft gibt es ein Gegenstück zu Murakamis Männern. Die Frauen. Oft mehr sinngebende Objekte als wirkliche Charaktere. Lebende, laufende Metaphern. Murakamis Männer werden leer und verlieren so ihre Frauen. Murakamis Männer verlieren ihre Frauen und werden so leer. Eine passende Beschreibung für Werke wie Scheunenabbrennen, Drive My Car, Naokos Lächeln und natürlich: Von Männern, die keine Frauen haben.
Im Versuch der Sinnlosigkeit wieder ihren Sinn zu geben, durchleben seine Charaktere realitätsferne Geschehnisse, träumen im Alltag und leben ihre Träume . Grenzen zwischen Realität und Metaphern verschwinden und die Grenzen selbst sind oftmals der Weg von der Oberfläche in die nicht nur literarische Tiefenebene, sondern auch den tatsächlichen Untergrund der erzählten Welt. Der Sprung in einen Brunnen, der Sprung in ein im Boden gefundenes Loch. Murakami nimmt die Zustände seiner Charaktere, gräbt tief in ihr Innenleben hinein und verwandelt das, was er findet in Mysterien, die es für seine Protagonisten zu lösen gilt.
Wie Burning Murakami adaptiert
Yoo Ah-In spielt Lee Jong-su. In der Kurzgeschichte nicht mehr als ein Mann in seinen Dreißigern, verheiratet und in einer sexuellen Beziehung zu einer jüngeren Frau. Im Film ist er inmitten seiner einsamen Zwanziger, hat seine Pflicht vor dem Militär schon getan, kreatives Schreiben studiert und möchte Schriftsteller werden. William Faulkner ist sein Lieblingsschriftsteller. Zwischenzeitlich lebt er wieder im Haus seiner Kindheit, auf dem Land nahe Seoul und der Grenze zu Nordkorea anstatt wie bei Murakami in der Nähe Tokyos. Sein Vater kann sich nicht um die Farm und das Haus kümmern, denn der ist kurz davor, in einer Gerichtsverhandlung schuldig gesprochen zu werden, eine Anleihe aus Faulkners ursprünglichem Barn Burning.
Die jüngere Frau aus der Vorlage nennt sich in der Adaption Shin Hae-mi (gespielt von Jeon Jong-seo). Hae-mi, anstatt wie in der Vorlage eine vorher Unbekannte zu sein, kennt Jong-su bereits seit der Kindheit. In derselben Gegend aufgewachsen und ungefähr im selben Alter treffen sie sich rein zufällig wieder und beginnen schnell eine Affäre. Sonst sehr nah an der Murakami Kurzgeschichte definieren sie zwei weitere Dinge. Ihr „großer Hunger“. Inspiriert durch ein Ritual afrikanischer Ureinwohner, das den Hunger nach einer generellen Erkenntnis und seelischer Befriedigung kennzeichnet sowie ihr Hang zur Fantasie oder auch zum einfachen Lügen. Die subjektive Realität eines Murakami Romans wird auch in der Adaption einer sonst realistischen Kurzgeschichte doch noch zum Thema, wenn Hae-mi Geschichten erzählt über deren Wahrheitsgehalt nie aufgeklärt wird.
Der wohlhabende Ben (Steven Yeun) ist Hae-mis neuer Freund, den sie während ihrer Zeit in Afrika kennengelernt hat. Anstatt dass das zwischen ihr und Jong-su jemals zum Thema wird, fühlt sich der ohnehin schon ziellose Schriftsteller nun wie das dritte Rad in einer Beziehung, in der Ben eigentlich gar keine Daseinsberechtigung hat. Ben nimmt im Film eine antagonistische Position ein, die in der Kurzgeschichte eher implizit als so explizit erzählt wird. Er lebt das perfekte Leben, aber auch er scheint sich für nichts zu begeistern, selbst wenn das ihm nicht so bewusst sein mag.
Scheunenabbrennen umfasst in seiner englischen Übersetzung gerade mal dreizehn Seiten bei 4.986 Wörtern. Burning wiederum läuft über eine Zeit von 148 Minuten über den heimischen Bildschirm. Dementsprechend sind hinzugefügte Details keine Überraschung. Der Erfolg hinter Burning als Adaption, die mehr versucht als eine einfache Verfilmung zu sein, kommt genau von den Details, die der Verfilmung exklusiv sind. Elemente aus Faulkners Kurzgeschichte werden übernommen, aber Murakamis Vorlage bleibt in Takt. Die Scheunen, im Film jetzt Gewächshäuser, werden weiterhin abgebrannt, aber der Kontext ist ein anderer.
Gewächshäuserabbrennen im modernen Korea
Auch wenn sich die zugrunde liegende Handlung eins zu eins mit seiner Vorlage deckt, ergänzt der Regisseur zusammen mit Co-Autorin Oh Jung-mi die originale Kurzgeschichte mit Facetten einer unsicheren Generation. Im Mittelpunkt stehen die drei zentralen Figuren, Jong-su, Hae-mi, Ben und ihr kollektiver „große Hunger“. In einem Südkorea des 21. Jahrhunderts und einem gesellschaftlich immer mehr für den kapitalistischen Westen relevant werdenden Land prallen berufliche und soziale Unsicherheit, instabile Lebensstile und ein sozialer sowie wirtschaftlicher Aufschwung direkt aufeinander.
Jong-su hat die stereotypischen für das frühe Leben wichtigen Stationen abgeklappert, aber lebt jetzt ein willkürliches Dasein. Bis er auf Hae-mi trifft. Ein Lichtblick im drögen Alltag, ein kleiner Hoffnungsschimmer, der kurz hell aufleuchtet und dann von Ben genommen wird. Auf dem Grundstück seiner Kindheit lebt Jong-su mit stets präsenten Erinnerungen an seinen Vater und das, was sein Vater im Gegensatz zu ihm erreichen konnte, sowie den Fehlern, die sein Vater begangen hat. In Hae-mis Apartment befindet Jong-su sich in einer anderen Welt. Eine Freundin, ein sinngebender Mensch und das täglich kurz ins Zimmer scheinende Licht der Sonne, ein tatsächlich existierender Lichtblick. Gleichzeitig Metapher und Realität.
Auf der anderen Seite steht Ben, ein junger Mann mit gut bezahltem, aber nie explizit benanntem Job, vielen Freunden, Hae-mi als fester Freundin einer Wohnung in einem trendigen Viertel Seouls. Ein Mann, der alles hat, immer lächelt, gerne lacht und dazu in seiner Freizeit auch noch Faulkner liest. Im Vergleich zu Jong-su das Abbild eines perfekten Menschen. Aus dem Blick Jong-sus, ein Soziopath. Neben dem regelmäßigen Gähnen in Anwesenheit anderer und der oberflächlichen Freundlichkeit brennt Ben in seiner Freizeit fremde Gewächshäuser ab.
Ben nimmt Jong-su seinen Lichtblick. Auf die Aussage Jong-sus, dass er Hae-mi lieben würde, entgegnet Ben mit nichts weiter als einem Lachen. Er nimmt ihm Hae-mi als potenzielle Lebensgefährtin und sobald sie verschwindet, dauert es nicht lang, bis Ben mit einer nächsten Freundin unterwegs ist. Wie in der Kurzgeschichte wird die Frage gestellt, ob das Gewächshaus metaphorisch für Jong-sus Beziehung zu Hae-mi stand, ob Ben diese Beziehung bewusst zerstört hat, aber Burning endet nicht wie die Vorlage mit dem Abbrennen dieser Beziehung, sondern erzählt die Geschichte weiter.
Für Jong-su gilt es das Mysterium rund um Hae-mis Verschwinden zu lösen und den Sinn seines Lebens zu finden. Die Suche nach einer tieferen Bedeutung des Lebens, die alle drei Figuren beschäftigt. Das Abbrennen von Gewächshäusern, das temporär die Antwort auf eine Frage nach der Sinnlosigkeit darstellt. In der Adaption von Scheunenabbrennen geht es nicht um den tieferen Sinn eines abgebrannten Gewächshauses, sondern darum, was einen Menschen dazu bringt, ein Gewächshaus abbrennen zu wollen.
Murakami und Faulkner im Takeaway
Hae-mi ist fort und so ist Jong-sus momentane Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Ben setzt seinen Alltag weiter fort, komplett indifferent über Hae-mis Verschwinden und weiterhin auf einem Erfolgskurs, der unmöglich zu überholen ist. Jong-su reflektiert über seine Beziehung zu Hae-mi, seinem Vater, seiner Familie und seiner Beziehung zu Ben. Seine Antwort auf die Frage, welches Gewächshaus abgebrannt wurde, entgegnet er mit dem Abbrennen seines eigenen, jetzt aber metaphorischen Gewächshauses.
In Lee Chang-dongs Burning ist ein Gewächshaus in Flammen das Symbol für soziale und gesellschaftliche Frustration. Ein Mittel zum Finden des Sinnes im eigenen Leben, ein individueller Sinn für jede seiner Figuren, aber immer in der Hoffnung, so den „großen Hunger“ zumindest für eine kurze Zeit gestillt zu bekommen. Dabei bezieht der Regisseur und gleichzeitig Co-Autor sich auf Elemente Faulkners Kurzgeschichte, die es so in Murakamis Scheunenabbrennen nicht gegeben hat.
Der Handlungsstrang rund um Jong-sus Vater und das Finden einer eigenen Identität entspricht deutlich den Ansätzen um Loyalität innerhalb der Familie und einem unabhängig starken Sinn für Gerechtigkeit aus Faulkners Barn Burning. Die Loyalität zum Vater wird in Burning aufgegriffen und endet genauso wie bei Faulkner in einem Akt der Identitätsfindung durch die Ausübung individueller Gerechtigkeit.
Lee Chang-dong adaptiert Murakamis Kurzgeschichte, indem er der Handlung mehr Kontext, mehr Facetten gibt und gleichzeitig mehr Fragen stellt, aber weniger Antworten gewährt. Burning ist nicht nur Scheunenabbrennen in Filmversion. Nicht bloß ausgeschmückt, sondern mit Inspiration durch Faulkner weitergedacht und mit Lee Chang-dongs Gespür für den Zustand der Gesellschaft in Südkorea neu interpretiert.