Nicht Ganz Sauber – (4) – Einkaufen

Der Löwe und ich begegneten uns das erste Mal auf dem Ludwigsplatz. Eigentlich treffen wir uns ausschließlich dort. Wahrscheinlich bin ich verrückt, doch mir gefällt der Gedanke, eine Statue zum Freund zu haben. Er wurde mein Ansprechpartner in allen Lebenslagen, mein Psychologe und Kritiker. Ich nannte ihn Hubert.

„Würdest du wirklich sagen, dass ich dein Freund bin?“, fragte Hubert einmal an einem besonders kalten Novembertag. Der Winter war früher als gewöhnlich über Passau hereingebrochen, es fielen bereits die ersten weißen Flocken auf den Ludwigsplatz und hinterließen einen schmierigen Wasserfilm auf Huberts steinerner Mähne. „Natürlich würde ich das“, antwortete ich überrascht, „warum fragst du?“ „Naja du erzählst mir ständig irgendwelche Geschichten von Kochabenden bei Freunden, von Kneipenbesuchen und Partys, aber ich bin nie eingeladen.“ „Sowas machen Statuen nicht“, gab ich vorsichtig zurück, „außerdem passt du nicht ins Welcome.“ „Na dann feiern wir eben hier“, knurrte der Löwe zornig, „es sei denn du möchtest mich zu dir nach Hause tragen.“ „Ich gehe schon mal Bier holen“, sagte ich, blieb aber wie angewurzelt stehen. Daraufhin brüllte Hubert so laut, dass meine Zähne geräuschvoll aufeinander schlugen. Also setzte ich mich zögerlich in Bewegung.

Mit dem Einkaufen in Passau ist es wie mit dem Entschärfen einer Bombe. Es geht 100 Mal gut, bis du dir beim 101. Mal wünschst, du wärst nie Bombenspezialist geworden. Während die meisten von uns jedoch aus gutem Grund nie eine Bombe entschärfen werden, ist das Einkaufen ein notwendiges, ja alltägliches Übel. Den Gang an die Regale überstehen die Besitzer eines robusten Magens noch. Will man im Anschluss jedoch nur schnell das eine Six-Pack bezahlen, das der studentische Geldbeutel noch hergibt, offenbart sich auf einen Schlag die ganze Grausamkeit des Krieges.

Heerscharen von Studenten drängen sich, beladen mit schwerem Marschgepäck, in mehr oder weniger geordneten Schlangen, stets in offener Rivalität um die besten Plätze. Alle wissen es, doch niemand spricht es aus: Aus diesem Supermarkt gibt es weder einen schnellen, noch einen einfachen Weg. Hier ein Ellbogen in die Rippen, da eine Einkaufstasche aus der schwungvollen Drehung in die Fresse gewischt. Der hungrige Mensch ist eine Bestie, auch und vor allem, wenn man ihn in eine Schlange stellt.

Als wäre das nicht schon schlimm genug, plärren cholerische Rentner die ohnehin geschwächten Studenten in wenigen Minuten bis zum Hörsturz: „Neue Kasse! Neue Kasse!“ Doch niemand wagt zu widersprechen. Bewaffnet mit groben Totschlägern aus Holz und Aluminium, übertrifft das Bataillon Silberrücken die jüngeren Verbände sogar noch bei weitem an Aggressivität und Kampfeswille. Denn auch sie kämpfen erbittert um jede Minute verbliebener Lebenszeit.

Nicht Wenigen raubt diese Erfahrung beim ersten Mal den Verstand und auch mit der Zeit wird es nicht einfacher, im Gegenteil. Allein der Gedanke an die erste Stoßzeiterfahrung sorgt dafür, dass diverse Lieferdienste in Passau gute Gewinne verzeichnen dürfen. Hat man sich schließlich zur Kasse durchgekämpft, drückt einem die Mitarbeiterin noch ein schadenfrohes „Schönen Tag“ ins ohnehin bereits entgleiste Gesicht, um das, was von der eigenen Persönlichkeit noch übrig ist, in kleine Stücke zu brechen. Ich für meinen Teil trug die Häme mit Fassung, nickte ihr stumm zu und machte mich leicht torkelnd auf den Rückweg.

„Wo warst du denn so lange?“, fragte Hubert, als ich wieder auf dem Ludwigsplatz ankam.  „Einkaufen“, röchelte ich und machte mir an Huberts Pfote ein Bier auf. „Zwei Wochen lang?“, wollte Hubert wissen. „Du hast ja keine Ahnung“, sagte ich, nahm den ersten Schluck und wischte mir erst dann den kalten Schweiß von der Stirn. Vielleicht hätte ich doch lieber Bombenspezialist werden sollen. Dann ginge ich wenigstens jeden Tag entspannt und voller Vorfreude zur Arbeit in der Hoffnung, nie wieder einkaufen zu müssen.

„Achja? Irgendwie kommt mir diese ganze Geschichte aber ziemlich bekannt vor. Fängst du jetzt schon an dich zu wiederholen?“, fragte der Löwe. „Pssst“, machte ich und kraulte ihn hinter den Ohren, damit er nicht weiter fragte.

Mahlzeit.