Der Löwe und ich begegneten uns das erste Mal auf dem Ludwigsplatz. Eigentlich treffen wir uns ausschließlich dort. Wahrscheinlich bin ich verrückt, doch mir gefällt der Gedanke, eine Statue zum Freund zu haben. Er wurde mein Ansprechpartner in allen Lebenslagen, mein Psychologe und Kritiker. Ich nannte ihn Hubert.
Passau. Regen. Es regnete oft in letzter Zeit. Hatten die Fernsehpropheten wenige Wochen zuvor noch den Beginn eines Jahrhundertwinters ausgerufen, kehrte der süddeutsche November nun wieder in seinen Normalzustand zurück. Ich stand, bewaffnet mit Regenschirm und Pappbecher, auf dem Ludwigsplatz, nahm den ersten Schluck Glühwein und sah stirnrunzelnd in das Gesicht des Löwen, der immer wieder nervöse Blicke über die Schulter warf. „Was soll das?“, fragte ich nach einiger Zeit genervt. „Psst“, machte Hubert, „ich weiß nicht, ob er uns hören kann.“ „Wer?“ „Der da drüben“, zischte er und nickte mit dem Kopf in Richtung der anderen Löwenstatue wenige Meter entfernt. „Kennst du den?“ „Nein“, antwortete ich, „ich kann auch nicht jeden Steinklotz in Passau kennen.“ „Der starrt immer nur wie ein Ölgötze in Richtung Stadtgalerie. Ich finde das äußerst unhöflich.“ „Sprich ihn doch einfach an“, meinte ich und zuckte mit den Schultern. „Nein, nicht nach all dieser Zeit, es wäre mir peinlich.“ „Ich kann mich auch für dich auf Jodel umhören“, bot ich an, „Katzenbilder sind sowieso gut fürs Karma.“
Drei Flüsse, eine App. Jodel ist die wohl ehrlichste Plattform, die es gibt. Nur auf Jodel offenbart Passau, was hinter der prüden Kleinstadtfassade steckt, und zwar eine drittklassige RTL-Soap. Natürlich wird auch anderswo gejodelt, gevotet und geschimpft. Allerdings zeichnen sich die Jodler hier durch einige Besonderheiten aus.
(1) Die meisten Passauer Studenten sind einsam und unglücklich.
(2) Alle wollen den Lörres.
(3) Katzenbilder und Sonnenuntergänge rocken.
Was also können wir daraus schließen?
Die kausalen Zusammenhänge scheinen auf den ersten Blick ganz klar. In Ermangelung eines Lörres rutschen viele Passauer Studenten, männlich wie weiblich, in die Einsamkeit ab. Das führt nicht nur zwangsläufig zur Anschaffung einer Katze, sondern darüber hinaus auch zu einem gestörten Verhältnis zu Sonnenuntergängen. Während letzteres zwar zwanghaft, aber harmlos ist, geht eine Katze ordentlich ins Geld. Soziale Kontakte brechen ab. Es ist ein Teufelskreis.
Vielleicht ist das allerdings noch zu kurz gedacht. Vielleicht ist die große Beliebtheit von Jodel nichts weiter, als der Ausdruck einer tiefgreifenden Kommunikationsstörung, resultierend aus der fehlenden Anonymität in einer Kleinstadt. Da früher oder später praktisch jeder jeden kennt, verbreitet sich Klatsch, wie ein Lauffeuer in Passau. Es gilt die oberste Maxime: Gehe immer davon aus, dass deine Kommilitonen mehr über dich wissen, als du selbst. Wie verlockend erscheint da mit einem Mal der anonyme Campus-Talk. Hier werden fröhlich die persönlichen Abgründe thematisiert, ohne damit unnötiges Gerede zu verursachen. Egal ob der Freund fremdgeht, die Warze auf dem Arsch des ONS eine grüne Farbe annimmt oder der Nachbar wieder einmal zu laut an der Tapete knabbert, auf Jodel kann man wildfremde Menschen bitten, ihren Senf dazuzugeben. Ein Traum wird wahr.
„Du benutzt die App doch auch“, meinte Hubert, „was bist du denn dann so kritisch?“ „Warte einen Moment“, grunzte ich, drückte auf Senden und sah von meinem Smartphone auf. „Wie bitte?“ „Du bist so ein Heuchler“, lachte der Löwe speichelspritzend. „Warum löscht du die App nicht einfach, wenn du ein Problem damit hast?“ „Hubert“, sagte ich, „ du bist ein sehr weiser Mann. Ich werde mich gleich darum kümmern.“ Ich drehte mich auf dem Absatz um und senkte den Kopf. 12 Upvotes. Mit einem zufriedenen Lächeln schob ich das Smartphone wieder in die Tasche, winkte zum Abschied und machte mich einmal mehr auf den Heimweg.
Mahlzeit.