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Nicht Ganz Sauber – (6) – Der Zauber der Weihnacht

Der Löwe und ich begegneten uns das erste Mal auf dem Ludwigsplatz. Eigentlich treffen wir uns ausschließlich dort. Wahrscheinlich bin ich verrückt, doch mir gefällt der Gedanke, eine Statue zum Freund zu haben. Er wurde mein Ansprechpartner in allen Lebenslagen, mein Psychologe und Kritiker. Ich nannte ihn Hubert.

Weihnachten steht vor der Tür. Der Duft von Glühwein und Plätzchen weht durch die Straßen, die Hausfassaden werden geschmückt. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen und kleine Kinder hinterlassen an den unsinnigsten Orten Coca-Cola-Flaschen; so zumindest die Disney-Vorstellung der besinnlichen Adventszeit. In Wahrheit putzt sich Passau heraus für die letzte Touristenwelle des Jahres, die erste seit Einstellung der Schifffahrt.

Ich war gerade auf dem Ludwigsplatz angekommen, als ich darüber nachdachte, wie sich die die Lage der Stadt am besten in ein oder zwei Sätzen zusammenfassen ließ. „Irgendwas mit Wetter“, überlegte ich laut. „Das kommt immer gut“, meinte Hubert, setzte zu einem weiteren Vorschlag an, wurde allerdings in diesem Moment von einem älteren Herrn mit orangefarbener Plastikjacke unterbrochen. Keuchend auf ein paar  neongelbe Skistöcke gestützt schnaufte der Mann: „En – schuldigung.“ Dann folgte eine lange Pause und ich musterte den Neuankömmling genauer.

Eine überdimensionale Spiegelreflexkamera baumelte traurig vom greisen Kropf und drückte die ohnehin schon hängenden Schultern noch weiter in Richtung Zehenspitzen. Der leere Blick und die geschmackvoll gemusterten Hosenträger weckten in mir einen Verdacht, der sogleich bestätigt werden sollte. „Wo geht es denn hier zur Innspitze?“ „Immer in diese Richtung. Sie können es nicht verfehlen. Wenn Sie auf Wasser stoßen, dann der Strömung nach.“, antwortete ich und der Mann schlurfte klackend davon. „Was war das denn“, fauchte Hubert erbost. „Innspitze?“ „Ein Touri. Glaub mir, ich habe schon schlimmere Dinge gehört. Innspitze war immerhin ziemlich nah dran“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände. „Der arme Mann hat es außerdem schwer genug.“ Gemeinsam beobachteten wir den Weg des Alten in Richtung Donaulände. Bis er außer Sicht war, zerrte man Opa in drei verschiedene Restaurants und verkaufte ihm zwei Bierkrüge, einen lächerlichen Filzhut sowie mehrere lustige Sonnenbrillen. Willkommen in Passau.

Neben dem Studentengeschäft hat Passau sich mit dem Tourismus ein zweites Standbein aufgebaut. Dazu werden, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, reiche Rentner in die Dreiflüssestadt gelockt und ausgenommen. Auf dem Papier klingt das ja auch alles ganz schön. Wer einmal liest, wie der Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz beworben wird, denkt zwangsläufig zunächst an die Niagarafälle, an spritzende Gischt und entfesselte Naturgewalt. Ist sie einmal gefunden, die Ortsspitze, bleibt nur Ernüchterung, die ursprünglichste aller Passauer Emotionen.

Damit es nicht so weit kommt, werden die meisten Gruppen ohnehin gleich am Busparkplatz von wartenden Gästeführern abgefangen und über steile Treppen hinauf in die Altstadt gelockt. Wem das kochende Arschwasser nach dem Aufstieg noch nicht die Kimme verbrüht, den unterhält der historisch gekleidete Hampelmann anschließend mit Gruselgeschichten über minütlich drohende Jahrhunderthochwasser, um auch dem letzten Flussenthusiasten eine Rückkehr an die Donau zu verleiden. Gelingt das nicht, freut sich der nautische Kamerad am Ende sogar darüber, abgesehen von langsamer Strömung, rein gar nichts zu sehen. Glück gehabt.

Nach der ungewollten Sporteinlage möchte der überzeugte Weltenbummler natürlich seine Zähne in traditionell bayerische Köstlichkeiten schlagen. Erstaunlicherweise sind Fleisch und Gerstensaft auf dem Rückweg zum Leichenwagen allerdings viel teurer, als im Rest der Stadt. Mehr Bewegung ist dennoch keine Alternative, also schmeißt man sich zusammen mit dem Rest des internationalen Publikums auf die Sperrholzeckbank und frisst den Schweinebraten von vorgestern. Im Anschluss wird zum Bus zurückgepilgert, nun mit federnden Schritten, denn zumindest der schnöde Mammon beschwert nicht länger das enttäuschte Gemüt.

„Was für ein grober Unfug. Das hast du dir diesmal alles ausgedacht, oder nicht?“, fragte Hubert verstört und stieß mir halb ängstlich, halb wütend die Schnauze ins Kreuz. „Der Christbaum ist wirklich sehr schön dieses Jahr, findest du nicht?“, wich ich gekonnt aus und deutete auf die festlich geschmückte Tanne gegenüber. Offenbar war mein geschicktes Ablenkungsmanöver erfolgreich, denn Hubert verdreht nur die Augen und ließ das Thema fürs Erste ruhen.

Am nächsten Tag kehrte ich mit einer Gruppe Briten zurück. „Ladies and Gentleman, may I present you the first sprechende Löwenstatue in the whole Regierungsbezirk.“ Hubert brüllte empört und ich erntete verständnislose Blicke. Die Pranke des Löwen traf mich zwar unvorbereitet, doch als ich über die Pflastersteine rollte, klimperte mein Portmonee fröhlich vor sich hin. „Reg dich ab“, rief ich Hubert zu und wischte mir das Blut vom Kinn, „man nennt es den Zauber der Weihnacht.“

Mahlzeit.

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