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Normalisierung von Homosexualität durch Parodieren?

Begriffserklärung

Normativ: Das bildungssprachliche Adjektiv normativ sagt aus, dass etwas als Maßstab oder Regel dient bzw. richtunggebend ist. Eine normative Aussage ist also eine Anweisung, ein „so sollte es gemacht werden“.

Normalität ist aus soziologischer Sicht als das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss, bezeichnet worden. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen.

Anmerkung:

Der Vortrag „Normalisierung von Homosexualität durch Parodieren?“ von Jan-Oliver Decker wurde letztes Jahr im Rahmen der Ringvorlesung „Diversity, Gender & Intersektionalität – Normalität – Bilder, Diskurse, Praktiken“ im SoSe2023 gehalten. Da das Thema „Homosexualität und Normalisierung“ nach wie vor aktuell ist, haben wir uns entschlossen diesen Artikel auch noch ein Jahr später zu veröffentlichen.

Jan-Oliver Decker ist Inhaber der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik und untersucht die Kontextualisierung der Homosexualität durch den Film. Hierbei geht er auf die Filme Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971) von Rosa von Praunheim und Der bewegte Mann (1994) von Sönke Wortmann ein.

Homosexuelle sind ein grundsätzlich fremdes oder funktionales Anderes

Decker stellt zu Beginn seines Vortrags zwei Thesen auf. Die erste These besagt, dass die durchschnittliche Darstellung männlicher Homosexualität im Spielfilm als normative Darstellung bezeichnet werden kann. Dies liege daran, dass aus dem Leben vieler homosexueller Männer bestimmte Merkmale herausgegriffen würden, aus denen sich dann normative Stereotype für die Filmfiguren ergäben.

Des Weiteren vertritt er die These, dass homosexuelle Männer einen gewissen Nutzen für die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft erbringen müssen, da sie ansonsten von anderen oder sich selbst ausgegrenzt würden. In der Konsequenz werden sie als „grundsätzlich fremd oder funktional anders“ definiert.

Die Deutsche Schwulenbewegung

In den 1970er Jahren formierten sich schwule Emanzipationsgruppen und die deutsche Schwulenbewegung. In diesem Kontext ist der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von besonderer Relevanz. Er kann als wegweisend für die Schwulenbewegung betrachtet werden, da er einen nachhaltigen Einfluss auf die Lebensrealität von Schwulen hatte. Denn noch bis ins Jahr 1969 wurden in Deutschland alle sexuellen Handlungen zwischen Männern strafrechtlich verfolgt. Trotz langsamer Besserung in den letzten Jahrzehnten ist es für viele Schwule ein langwieriger und schwieriger Weg, die Mentalität des Versteckens und Verfolgens zu überwinden.

Der Unrechtsparagraph 175 RStGB

Der als Unrechtsparagraph bezeichnete § 175 RStGB wurde am 01.01.1872 in Kraft gesetzt und erst am 11.06.1994, nach einer über hundertjährigen Geltungsdauer, aufgehoben. Der Paragraph kriminalisierte alle homosexuellen Handlungen von Männern. Um die in dieser Zeit an der homosexuellen Minderheit begangenen Verbrechen aufzuarbeiten, wurde am 17. Juni 2017 ein Gesetz zur Rehabilitierung der seit der Befreiung Deutschlands zu Unrecht Verurteilten verabschiedet.

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt

In diesem Film wird am Beispiel eines homosexuellen Protagonisten das Leben von schwulen Männern im Berlin der 1970er Jahren inszeniert. Er soll zeigen, dass die Protagonisten die Ohnmacht und herausfordernde Situationen aufgrund ihrer Sexualität überwinden und durch Organisation und Solidarisierung untereinander wachsen können.

Der Film, der ein schwules Selbstbild zeichnet, sollte als Aufklärungsfilm, so erwartet man, politisch korrekt über die Schwulenszene berichten. Durch die Parodie mit Klischees und Stereotypen wird jedoch das etablierte schwule Selbstbild aufgelöst und die Überkompensation durch Überanpassung der Homosexuellen an die bürgerliche Kultur angeprangert. Dies wird vor allem an dem Protagonisten Daniel deutlich. Er verliebt sich in Clemens und versucht in ihrer Liebe der „typischen“ bürgerlichen Ehe nachzueifern. Als er dann aber einen älteren Mann kennenlernt, zerbricht die Beziehung und Daniel springt von einer Affäre in die nächste.

Diese Parodie eines schwulen Mannes wird jedoch von der Mehrheit der Gesellschaft nicht erkannt und daher auch nicht kritisch hinterfragt.

In der Handlung des Films wird deutlich, dass homosexuelle Männer von allen Seiten Druck erfahren. Zum einen durch die Anpassung an das bürgerliche Leben der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft, zum anderen durch andere Homosexuelle, durch die Forderung nach Ästhetik und vor allem durch die ständige Angst, Opfer eines Hassverbrechens zu werden. Das wird im Film dadurch verdeutlicht, dass Daniels Zeit in der Schwulenkneipe äußerst ausschweifend dargestellt wird und er Augenzeuge eines Hassverbrechens an anderen schwulen Männern wird und. Diese sozialen Zwänge verfestigen sich in Schuldgefühlen und dem Versuch der Überkompensation. Also: „Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben haben.“

Jan-Oliver Decker folgert daraus, es gäbe komplexe soziale Mechanismen der Ausgrenzung, die sich auch innerhalb der homosexuellen Minderheit widerspiegeln, in der Gruppe der politisch angepassten Homosexuellen und der progressiven Homosexuellen.  Die Ausgrenzung durch die heterosexuelle Mehrheit, hat die homosexuelle Minderheit derart verinnerlicht, dass sie sich selbst nach außen hin ausgrenzt.

„Wir wollen nicht nur toleriert, wir wollen akzeptiert werden“

Durch den Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt wird an den Zuschauer appelliert tolerant zu sein. So ist mit dem Satz „Wir wollen nicht nur toleriert, wir wollen akzeptiert werden“ vor allem die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft adressiert. Ein ebenso großes, wenn nicht sogar größeres Problem ist aber, dass genau dies auch unter queeren Menschen immer noch Schwierigkeiten bereitet: Das Selbstbekenntnis und die Selbstakzeptanz sind ein großes Hindernis auf dem Weg zur Utopie, in der jeder für sich selbst sein und Stolz empfinden kann. Denn, wie Decker feststellt, erst durch Selbstakzeptanz wächst die Gesellschaft von innen heraus. Offensichtlich sollte „es (…) zunächst Sache der homosexuellen Männer selbst (sein), sich zu definieren.“, so Decker. Diese Debatte liegt nicht in der Entscheidungsmacht des heteronormativen Systems. Die Diskursmacht über sich selbst zu entscheiden, sollte allein bei den Betroffenen selbst liegen.

Der Bewegte Mann

In diesem Film landet der Protagonist Axel nach einem Streit mit seiner Freundin in einer Wohngemeinschaft mit zwei schwulen Männern namens Walter und Norbert. Beide finden Axel sehr attraktiv, was zu komischen Situationen führt, die ein überspitztes Bild von Homo- und Heterosexualität zeichnen.

Der Film zieht also eine Grenze zwischen schwul und heteronormativ. Er verhandelt das Bild einer idealen Männlichkeit, repräsentiert durch den heterosexuellen Mann Axel. Er wird durch seine Körperlichkeit und seine aktive Dominanz begehrenswert, während der schwule Mann, repräsentiert durch Norbert und Walter, mit Travestie gleichgesetzt wird. Damit soll eine defizitäre männliche Rolle zum Ausdruck gebracht werden. Die Attribute, die hier dem schwulen Mann zugeschrieben werden, sind Unsicherheit, Schwäche, Verweichlichung und weibliche Passivität. „Die Parodie der Schwulen wird zur medialen Norm“, so Decker, und damit zu einem heteronormativen Selbstbild.

Anmerkung der Autorinnen: Hier sollte jedoch kurz innegehalten werden: Das patriarchale System ist in der Gesellschaft so verinnerlicht, dass der Ausdruck jeglicher stereotyper weiblicher Persönlichkeitsmerkmale als etwas Schlechtes angesehen wird.

Aus einer heteronormativen Perspektive

Decker schließt seinen Vortrag mit der Bestätigung seiner These, dass die Darstellung des homosexuellen Mannes im Film einer Normativität entspreche. Dabei ist es egal ob es „aus der schwulen Perspektive, sich selbst zu befreien und sich von gesellschaftlichen Normen abzuwenden oder um aus einer heteronormativen Perspektive in den Dienst für gesellschaftliche Werte genommen zu werden “ sei, die Normativität ist in jedem Fall gegeben.