Unsere Autorin Sophia hat noch nie einen Poetry Slam besucht. Zeit, diesen Missstand anlässlich der diesjährigen Town Hall Sessions zu ändern. Ein Erfahrungsbericht.
Es ist nicht so, dass ich kein Fan von Poesie bin: immerhin bin ich mit Tumblr groß geworden, ein regelrechtes El Dorado für tiefsinnige Gedanken. In meinem Bücherregal stehen die großen Namen der Instapoet-Szene. Aber irgendwie bin ich mit Poetry Slams nie wirklich warm geworden. Sie sind, sind wir ehrlich, auch nicht viel mehr als die gentrifizierte Hipstervariante von Rapbattles. Vielleicht rührt meine Abneigung von der prätentiösen Vortragsweise her. Die meisten Clips, die mit mir der Caption „Das ist so deep“ in die Instagramtimeline gespült werden, sehen nämlich ähnlich aus: jeder Satz fängt so langsam an, dass man fast glaubt, die Poet:innen müssten live auf der Bühne überlegen, was sie als nächstes sagen, dann sprudeln die Sätze immer schneller heraus, einzelne scheinbar zufällig ausgewählte Wörter werden exaltiert betont und münden in einer rhetorischen Frage á la „Spürt ihr meine innere Zerrissenheit?“.
Am vergangenen Donnerstag ist es also so weit: mein erster Poetry Slam. Als Zuschauerin natürlich, keine zehn Pferde brächten mich jemals auf eine Bühne, um intime Gedanken mit Fremden zu teilen. Aber wenigstens davor kann ich ja Platz nehmen. Pünktlich um 19 Uhr sitze ich also mit einigen Freundinnen, die ich kurzfristig rekrutieren konnte, im prall gefüllten Innenhof des Rathauses. Das Format ist denkbar einfach: erlaubt sind nur selbst geschriebene Texte mit einer maximalen Länge von sieben Minuten. Die Poet:innen (in unserem Fall vier Stück) tragen der Reihe nach ihre Texte vor, das Publikum kürt durch Applaus den Sieger des Slams.
Den Abend eröffnen darf Laura Hybner aus Landshut. Sie trägt ein Stück mit dem Titel „Graffiti im Kopf“ vor, obwohl es eigentlich eher um das fehlende Graffiti geht; Schreibblockaden und Ausgebranntheit gehören ja quasi zum Schriftstellertum wie Schiller zu Goethe. Ich frage mich, ob die folgenden Texte ähnlich ernst sein werden und ob wohl Poet:innen häufiger depressiv sind als der Durchschnittsbürger oder depressive Menschen nur einfach öfter Poet:innen werden. Überraschend kommt daher der zweite Beitrag des Abends, den Chris aus „fast-Regensburg“ präsentiert. „Gestalten im Fitnessstudio“ könnte auch aus einem Stand-Up Comedy Programm stammen, mit Pointen wie „Mein Körper ist ein Tempel – der vom IS gesprengt wurde“. Jeder, der einmal in einem Fitnessstudio mit motivierenden Live, laugh, love-Wandstickern trainiert hat, findet sich hier wieder, relatable nennt man das glaube ich. Kurz bevor ich meine Hypothese aus dem ersten Beitrag verwerfen muss, grätschen die beiden letzten Poetinnen dazwischen. Fionas Text handelt von Unsicherheit und Selbstzweifeln, endet aber wenigstens mit dem positiven Ausblick auf das altbekannte Licht am Ende des Tunnels. Und auch der letzte Text der ersten Runde, vorgetragen von Naemi, handelt von Angst, diesmal vor dem Erwachsenwerden. Während die gequälten Künstlerseelen sich anschließend eine Pause gönnen, wird das einfache Volk unterhalten von dem Moderatorenduo, das eine Runde Zitateraten spielt. Was zunächst nicht sehr spannend klingt, beschert uns dann doch Highlights wie „Wer hat’s gesagt – Mario Barth (Comedian) oder Adolf Hitler (Politiker)?“
Auch die zweite Runde startet erwartungsgemäß ernst: ein Streitgespräch mit Gott. Dann wieder Chris, der seinen Leidensweg als Junge, dessen Mutter Frauenärztin ist, beklagt. Das mehrheitlich weibliche Publikum zeigt sich nicht ganz so begeistert wie noch in der ersten Runde. Ein Mann, der Witze über Frauenärzt:innen macht, ist scheinbar nicht mehr besonders relatable. Während die meisten der vorangegangenen Stücke zeitlos sind, greift Laura Hybner in ihrem zweiten Beitrag „Trümmerkonzert“ den Ukrainekrieg auf. Es ist der einzige Beitrag des Abends, bei dem tatsächlich lebhafte Bilder in meinem Kopf entstehen. Denn ausnahmsweise geht es einmal nicht um die eigene abstrakte (und zumeist niedergeschlagene) Gefühlswelt, sondern um Szenen, die so gerade sehr real passieren könnten: eine Sängerin, die in einem ausgebombten Theater ein letztes Mal singt, bevor sie die Flucht antritt. Ein Museumsdirektor, der verzweifelt versucht, die ihm anvertrauten Werke vor dem Bombenhagel in Sicherheit zu bringen. Eine Pianistin, die ihr Klavier zurücklassen muss, aber noch ein letztes Mal Schuhmann anstimmt. Es ist der farbenreichste und zugleich schwerste Beitrag des Abends, gegen den Fionas abschließender „Realitätscheck“ nicht mehr ankommt.
Die per Klatschen ermittelte Siegerin heißt am Ende des Abends schließlich Naemi und ich muss feststellen: obwohl die Texte allesamt gut geschrieben und vor allem beeindruckend vorgetragen waren, stellt sich bei mir kein rechtes Slamfieber ein. Die Realität ist schon deprimierend genug, wenigstens in der Kunst möchte man sich doch in diesen Zeiten ein wenig Eskapismus gönnen.
Die Town Hall Sessions sind ein jährlich stattfindendes Kulturformat, das vom Passauer Jugendzentrum Zeughaus organisiert wird. Alle Infos findet ihr auf der Zeughaus-Website.