Die systematische Kriminalisierung der freien Meinungsäußerung
Passau, 12. Januar 2022. Eine junge Frau tritt aus dem rot gestrichenen, altehrwürdigen Gebäude in der Schustergasse 4 – dem Amtsgericht Passau –, mit einem Lächeln auf den Lippen und scharfen Worten auf der Zunge.
Es war ein harter Tag für Mirjam Herrmann, doch auch einer, der Früchte trug.
Man sollte meinen, dass die Anwesenheit der 24-jährigen Jura-Studentin hier in der Schustergasse Verpflichtungen ihres Studiums geschuldet sei, dass sie vielleicht da war, um einem Richter mal über die Schulter zu schauen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sie hat sich in einem Verfahren stundenlang selbst verteidigt und am Ende trotz solider Argumentation nur einen Teilsieg errungen.
„Wir werden als Klimacamp auch weiter juristisch gegen die Vorwürfe der Stadt vorgehen“, so Mirjam nach dem Verfahren. „Ich werde gegen den letzten bestehenden Vorwurf Rechtsbeschwerde vor dem Bayrischen Obersten Landesgericht einlegen, weil ich möchte, dass auch in Zukunft Aktivist:innen für Klimagerechtigkeit protestieren können.“
Sie scheint entschlossen und gesellt sich nach einigen Interview-Fragen zu den Unterstützer:innen, die zur Verhandlung gekommen sind. Sie und die Pressevertreter:innen hatten gemeinsam die Kapazitäten des kleinen Gerichtssaals gesprengt. Ein paar hatten draußen warten müssen, eine Journalistin der Passauer Neuen Presse hilfsweise auf der Anklagebank platzgenommen. Mirjam war vorher gefragt worden, ob das für sie in Ordnung sei.
Ja, auf die Einhaltung der vorgeschriebenen, traditionellen Abläufe legen Gerichte und Behörden viel wert. Diese Etikette dient letztendlich dazu, die Rechte aller Parteien sicherzustellen und nach außen hin zu präsentieren.
Doch führt die penible Einhaltung vorgegebener Abläufe bei Behörden und Gerichten auch zu einem gerechten Ergebnis?
Mirjam sieht das für ihren Fall anders: „Ich wurde illegal unter Anwendung von Gewalt von einer Versammlung geräumt, die grundrechtlich geschützt und nicht aufgelöst war. Trotzdem besitzt die Stadt die Dreistigkeit, mir ein Bußgeld für die fragwürdige Leitung der Baumbesetzung anzuhängen.“
Sie bezieht sich damit auf die erste Baumbesetzung in Passau im Mai letzten Jahres, die zu bundesweiter Aufmerksamkeit geführt hat – auch weil das SEK aus München sie noch am selben Tag im Auftrag der Stadt gewaltsam beendete. Am Folgetag waren dann wieder Bäume besetzt worden. Und obwohl die Stadt das schließlich akzeptiert hatte, mussten sich auch hier zwei Aktivistinnen in den letzten Wochen vor Gericht verantworten. Beide Verfahren wurden eingestellt.
Doch Richter Heide, dem Mirjams Verfahren mit dem Vorwurf der ‚Leitung einer nicht angemeldeten Versammlung‘ zugeordnet war, sah einen Verstoß: „Irgendjemand muss es ja gewesen sein“.
Die Jurastudentin beharrt darauf, dass ihr persönlich etwas nachgewiesen werden müsse und sieht sich vom Gericht in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt. Sie will Rechtsmittel einlegen.
Und tatsächlich wurde sogar juristisch unkundigen Anwesenden während der Verhandlung klar, dass es kaum Anhaltspunkte gibt, Mirjam könnte Leiterin gewesen sein. Diese müssen laut einschlägiger Leiturteile aber vorliegen.
In ihrer Verteidigung zitiert Mirjam Urteile von mehreren hohen Gerichten, darunter eines des Bundesverfassungsgerichts, das sinngemäß erklärt: Es müssten konkrete Tatsachen vorliegen, dass ein:e Leiter:in den Ablauf und Zeitrahmen einer Versammlung maßgeblich bestimmt hat und in dieser Rolle von den Versammlungsteilnehmenden akzeptiert wurde – sonst bestünde das Risiko, Teilnehmende wegen der Gefahr der Kriminalisierung abzuschrecken und damit das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit über die Gebühr einzuschränken.[1] Auch das Bayerische Oberste Landesgericht folgt in seiner Rechtsprechung diesem Urteil.[2]
Hier in Bayern handelt es sich bei dem Verstoß nur eine Ordnungswidrigkeit – im Grunde eine kleine Sache. Ist das Problem also am Ende gar nicht so groß?
„Das Problem ist, dass die Stadt Passau mit der schieren Menge an kleinen Ordnungswidrigkeitsverfahren unser Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und unseren legitimen, friedlichen Protest enorm einschränkt“, sagt Mirjam. Denn viele kleine Verfahren mit überschaubaren Bußgeldern von vielleicht 100 Euro sind zwar für z.B. Studierende teils schon ein großes Problem, werden aber umso problematischer, wenn sie sich so häufen, dass am Ende viele Tausend Euro auf dem Spiel stehen.
Ein großer Anteil der Bußgelder bildet ebenjener Verstoß gegen die Anmeldepflicht geplanter Versammlungen, die eigentlich der Vorbereitung der Behörden zur Abwendung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit dient. Geahndet wird der Verstoß i.d.R. aber auch ohne dass tatsächlich eine Gefahr bestand.
Gravierender ist das Problem noch in Bundesländern, in denen die unangemeldete Versammlungsleitung eine Straftat ist. Klaus Schulz, Strafverteidiger aus Ravensburg in Baden-Württemberg, erzählt mir von seinen Erfahrungen. Er übernimmt derzeit viele Fälle der aktivistischen Szene in und um seine Heimatstadt und stößt immer wieder auf die gleichen Vorwürfe: darunter ebenfalls Leitung einer unangemeldeten Versammlung (hier als Straftat), Hausfriedensbruch, Nötigung. „Viele Aktionen sind gerade an der Grenze zur Illegalität, aber oft einfach nicht strafbar. Ich hab das Gefühl, dass die Polizei teilweise sehr die Einstellung vertritt: ‚Diese Rotzlöffel, denen zeig ich es!‘“
Nach Aussage des Anwalts reagieren die Polizist:innen hilflos, weil die Aktionen irgendwie auffallen, stören, aber oft nicht direkt verboten sind – viele Aktionen würden Aktivist:innen sogar im Vorfeld mit ihm bezüglich rechtlicher Gesichtspunkte durchsprechen und die Strategie daran anpassen. Das sei für ihn als Anwalt ungewöhnlich: „Die meisten Straftaten werden einfach spontan begangen und in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Und von Aktivist:innen wird eben vorher abgeklärt: Was kann man machen mit einigermaßen überschaubarem Risiko und was nicht.“
Trotzdem „überschaubarem Risiko“ stapeln sich etwa 30 Akten aktivistischer Fälle bei dem Fachanwalt für Strafrecht. Denn dass die meisten Aktionen auf dem Papier nicht rechtswidrig sind, steht der Verfolgung oft nicht im Weg: „Bei den Verfahren, die ich habe, gehe ich bei dem überwiegenden Anteil davon aus, dass sie eigentlich freigesprochen werden müssen. Das heißt nicht, dass sie nachher auch freigesprochen werden, weil die Gerichte und die Staatsanwaltschaft da teilweise einfach schon Repressionsmaschinen gleichen.“
Aber warum all das? Sind der Staat und Gerichte generell repressiv? Besteht ein Interesse, immer möglichst viel zu bestraften? Oder liegt der Kern des Ganzen in der politischen Betätigung der Beschuldigten?
Schulz mit seinen etwa zweieinhalb Jahrzehnten Strafrechtserfahrung meint dazu: „Es stört nicht die Tat – es stört die Botschaft!“ Was er beschreibt, sind politische Verfahren. „Bei kleinen Ordnungswidrigkeiten sind die Rechtsmittel-Möglichkeiten [gegen Urteile] extrem eingeschränkt. In solchen Fällen entscheiden Richter:innen oft nach Gutdünken, nicht nach der geltenden Rechtslage.“
Tatsächlich erzählen mir Aktivist:innen abstruse Geschichten: Da gibt es viele Straftatvorwürfe wegen Hausfriedensbruchs beim Fassadenklettern, was das Verbot eigentlich nicht umfasst; die unzähligen fragwürdigen Konstruktionen einer unauffindbaren Versammlungsleitung; bei vielen nicht klar rechtswidrigen Aktionen werde im Zweifel oft Nötigung vorgeworfen, was im Grunde fast jeden Eingriff in das Leben eines anderen beschreiben kann; einer Aktivistin teilt der Richter vor dem Verfahren schon mit, ihre Verteidigung spiele keine Rolle, sie sei schuldig; ein anderer muss ein Bußgeld bezahlen, weil das Gericht in seinem verpflichtenden Auslandssemester in ein paar Tausend Kilometern Entfernung keinen hinreichenden Grund für eine Terminverschiebung sieht. Fragwürdig scheinen auch oft Delikte gegen Polizeibeamt:innen wie Tätlicher Angriff, was sehr weit ausgelegt werden kann, oder auch Beleidigung, was nach Rechtsanwalt Schulz „letztendlich ebenfalls nur noch ein Delikt für Polizeibeamte darstellt“.
Während der Internationalen Automobilausstellung (IAA) vergangenen September gibt es unzählige Berichte über Festnahmen wegen Mitführens von Flyern oder Stickern, Durchsuchung auf Basis des Aussehens, Gefährder:innenansprachen[3] gegen Zeug:innen und viele weitere fragwürdige Polizeimaßnahmen. Die Grünen stellten im Nachgang mehrere Anfragen im Landtag, um die Geschehnisse rund um die IAA ans Tageslicht zu bringen. Einen exzellenten Einblick das Thema gibt Rico Grimm in seinem Artikel bei Krautreporter.
In der Praxis ist die Aussage von Polizeizeug:innen vor Gericht deutlich mehr wert als die aller anderen. Aus diesem und anderen Gründen sind Verfahren gegen Polizist:innen selten erfolgreich – für Anzeigen von Polizist:innen ist das Gegenteil wahr. Diese Problematik beschreibt Jan Böhmermann in seiner Neo-Magazin-Royale-Sendung zu „Rassismus bei der Polizei“.
Es sind mit Ausnahmen nicht immer die offensichtlichsten Ungerechtigkeiten, die Aktivist:innen widerfahren, und bei Weitem auch nicht alle Vorfälle sind unfair, aber es zeichnet sich doch das Bild einer systemimmanenten Kriminalisierung, die nicht in der objektiv geltenden Rechtslage, sondern in der politischen Überzeugung der Kriminalisierten zu fußen scheint.
Im Grunde bedeutet das einen erheblichen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung, da Menschen auf Basis ihrer politischen Meinung oder zumindest der Tatsache, dass sie eine politische Meinung äußern, in Konflikt mit staatlichen Institutionen geraten, die dafür da sein sollten, die politische Meinungsbildung und -äußerung zu unterstützen, da sie sich aus ihr konstituieren und ohne eine freie Fortbildung der öffentlichen Meinung in einem demokratischen Rechtsstaat keine legale Daseinsberechtigung besitzen.
Anmerkungen & Quellen
[1] BVerfG-Urteil: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/07/rk20190709_1bvr125719.html (1 BvR 1257/19, Rn. 18).
[2] BayOLG-Urteil: https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BayObLG&Datum=19.11.1969&Aktenzeichen=RReg.%204a%20St%20125/69 (RReg. 4 a St 125/69).
[3] Die Polizei kann Gefährder:innenansprachen durchführen, um Personen darauf hinzuweisen, dass sie in besonderem Fokus der Polizei stehen und davon ausgegangen wird, sie könnten Straftaten begehen. Das Ziel solcher Ansprachen oder Anschreiben ist oft Einschüchterung und Beeinflussung zur Unterlassung bestimmter Handlungen – z.B. die Teilnahme an Protesten. Insofern greifen Gefährder:innenansprachen regelmäßig in Grundrechte ein und bräuchten dafür eigentlich eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage.