Es ist nicht das erste Mal, dass Claus Schönleber (begründete) Paranoia in Passauer Passanten weckt. Mehrmals im Jahr führt er eine Handvoll Neugieriger in seinem Datenschutzspaziergang durch die Altstadtgassen und erzählt mit erhobenem Zeigefinger über irritierte Gastronomiebesitzer, über dreiste Privatkonzerne und über die Stadt Passau, die alle eines gemeinsam haben: Sie nutzen Videoüberwachung in ihren Räumlichkeiten und auf ihren Außenplätzen und filmen jeden, der bereitwillig hereinspaziert oder ahnungslos vorbeiläuft. Schönlebers Datenschutzspaziergang verschafft einen Überblick über die in Passau genutzte Kameratechnik und versucht die Frage zu beantworten, warum Datenschutz überhaupt so wichtig ist und was die Politik derzeit dafür (und dagegen) tut.
Es ist Mittwoch, 16 Uhr. Wir treffen Schönleber in seinem Büro in der Grabengasse. Draußen regnet es aus Eimern, trotzdem ist es hier nicht viel gemütlicher. Der Raum hat gefühlt keine zwölf Quadratmeter, das Mobiliar hat seine besten Zeiten hinter sich, es herrscht Chaos. Im Schaufenster stehen vereinzelte Kameras und Speicherkarten mit handbeschrifteten Papier-Preisschildern. Zusammengepfercht sitze ich halb unter dem Stehtisch und halb auf dem Schoß einer Rentnerin, die heute auch mitläuft. Die Tür zur Grabengasse ist auf, das Geräusch eines Helikopters ertönt in der Ferne. Schönleber schnappt seinen Camcorder, rennt vor die Tür und beginnt, den Himmel zu filmen. Er will wissen, warum wieder Polizeihubschrauber im Einsatz sind. Als der Lärm der sich drehender Rotorblätter verschwunden ist, drückt er jedem einen Zettel in die Hand. Auf A4 steht da groß „Datenschutz ist Persönlichkeitsschutz“, gefolgt von den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes und den Konsequenzen, die eine Einschränkung dieser Grundrechte nach sich ziehen würde. Darunter sind einige Fotos von Beispielen, wie wir beobachtet und aufgezeichnet werden. Das geht von Verkehrskameras über Flughafenkontrollen bis hin zu Parkscheinautomaten.
16:10 Uhr. Als keiner mehr kommt, legt Schönleber einen silbernen, gemusterten Schal um. „Den tragen die Promis in den USA gegen die Papparazzi.“ Angeblich schirmt er Blitzlicht ab. Mit seiner bunten Brille und dem schütteren Haar sieht er aus wie ein alter Künstler auf der Suche nach Inspiration. Wir sind zu fünft, neben Schönleber und der Rentnerin haben sich noch eine Studentin und eine PNP-Reporterin dazugesellt. Wir laufen los, über die Nagelschmiedgasse in den Bratfischwinkel bis zur Schanzlbrücke, über die Große Klingergasse hin zum Klostergarten. Schönleber fängt an zu erzählen. Wofür brauchen wir eigentlich Datenschutz? „Wenn ich meine Daten nicht schütze, schränke ich mein Recht auf die freie Entfaltung meiner Persönlichkeit ein“. Er erzählt von einem Fall, bei dem eine Passantin rein zufällig während einer Linken-Demo einkaufen war. Sie landete in der Datenbank und wurde daraufhin monatelang vom Verfassungsschutz überwacht. Wenn Kameras also beispielsweise bei einer Demo mitlaufen, kann es passieren, dass manche Menschen auf ihr Grundrecht der Demonstrationsfreiheit verzichten. Dem fälschlichen Eintrag in (polizeiliche) Datenbanken war es auch geschuldet, dass 32 Journalisten beim G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 die Akkreditierung entzogen oder verweigert wurde.
Kameras sind überall. Täglich werden wir gefilmt und aufgezeichnet: Der Imbiss-Besitzer um die Ecke will sich gegen Vandalismus absichern, der Parkautomat soll vor Raub geschützt werden, am ZOB sollen Straftaten verhindert werden. Doch tun Kameras überhaupt das, was so verheißungsvoll versprochen wird? Bringen Kameras Sicherheit? Schönleber nennt das Beispiel London: In den letzten Jahren wurden hier mehrere Milliarden Pfund in das Überwachungssystem gesteckt, doch Erfolge sieht man kaum. Gerade einmal 3 Prozent der Verbrechen werden dort mithilfe von Videomaterial gelöst, die Kriminalitätsrate ist ebenfalls nicht gesunken.
Unter der Schanzlbrücke zeigt uns Schönleber einen Parkautomaten, der, wie ein Geldautomat, alles und jeden aufzeichnet. Während er über Sinn und Unsinn dieser Kamera schwadroniert, zückt die PNP-Reporterin ihre Spiegelreflexkamera und fordert uns auf, uns neben der Kamera zu positionieren, damit sie Fotos schießen kann. Die Ironie scheint ihr zu entgehen.
Zurück in der Ludwigstraße spricht Schönleber den Elefanten im Raum an: Das kurz zuvor verabschiedete Polizeiaufgabengesetz (PAG). Es kommt zu einer hitzigen Diskussion über die Begriffe „Gefährder“ und „drohende Gefahr“. „Die Begriffe sind einfach nicht greifbar. Und was ist eigentlich aus der juristischen Unschuldsvermutung geworden?“ Mit dem PAG würden prophylaktische Maßnahmen gegen Gefährder auf die normalen Bürger runtergebrochen. Das sieht neben Schönleber auch der bayrische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri so, Schönlebers „alter Freund aus früheren Zeiten“, ein „sehr fähiger Mensch“. Petri sieht im PAG eine Gefahr für die „freiheitliche Gesellschaftsordnung Deutschlands.“ Er sagt: „Wenn ich mich nicht mehr frei bewegen kann – frei denken und äußern, was ich will – führt das dazu, dass ich mich irgendwann nur noch regelkonform verhalte.“ Und zum Beispiel nicht mehr auf Demos gehe.
In der Fußgängerzone laufen wir an einer der letzten Telefonzellen Passaus vorbei. Schönleber winkt in die Kamera, die auf uns herabschaut. Für ihn ist der Datenschutzspaziergang immer notwendiger geworden. Das Bewusstsein der Bürger über Datenschutz sei noch nicht weitgenug fortgeschritten, er hoffe aber auf mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Das ist auch der Grund, warum sich die Grünen der Stadt Passau, bei denen Schönleber langjähriges Vorstandsmitglied ist, das Thema Datenschutz auf die Haube geschrieben haben. Am Klostergarten angekommen berichtet er von der Stadtratssitzung des 15. Mai, bei der das neue Sicherheitskonzept vorgestellt wurde. Der Klostergarten soll mit acht Kameras ausgestattet werden, die wiederum von 8 bis 22 Uhr von einem Häuschen aus überwacht werden, dass an der Toilettenanlage im Klostergarten – 50 Meter weiter – angebaut wird. „Die Kameras sollen beim Markt und bei Demos abgeschaltet werden,“ erzählt Schönleber von der Stadtratssitzung, „aber woher weiß ich, dass sie auch wirklich aus sind? Eigentlich müssten sie deutlich abgedeckt werden. Und woher weiß ich, dass die Kameras gegen Fremdzugriff abgesichert sind? Woher weiß ich, dass die Aufnahmen auch tatsächlich nach 72 Stunden gelöscht werden?“ Im Juni folgt der nächste Datenschutzspaziergang, dann vielleicht schon mit den ersten Kameras, die täglich tausende Studenten im Klostergarten aufzeichnen. Bis dahin rät Schönleber: „Suchen Sie mal in der nächsten Kneipe oder Disco nach einer Kamera und schauen Sie, wie sich ihr Verhalten verändert.“
Es war nicht das erste Mal, dass Schönleber Paranoia in Passanten weckt. Und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein.