Wie steht es eigentlich um die Europäische Union? Auf diese Frage folgen meist viele verschiedene Begründungen. Mit der Globalisierung, Donald Trump oder dem Brexit wird argumentiert, das Ergebnis ist meist dasselbe: „Die EU steckt in der Krise.“ Martin Selmayr, EU-Generalsekretär und Alumni der Universität Passau, sieht das anders. Obwohl die Union momentan in einer „schwierigen Situation“ stecke, müsse man sich in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht gerade bei David Cameron und Donald Trump für die Entstehung einer stärkeren EU bedanken. Es ist ein Ausblick, den Selmayr mit Grinsen im Gesicht und Ironie in der Stimme, aber trotzdem voller Zuversicht, seinen 400 Zuhörern nach seinem eineinhalb stündigen Vortrag „Die EU zwischen Kontinuität, Brexit und Neugründung“ mitgibt.
Wenn Selmayr jetzt im Hörsaal 5 des WiWi-Gebäudes von der Europäischen Union spricht, dann sagt er Sätze wie „Ja, wir haben mit Herausforderungen zu kämpfen, aber wir machen auch gemeinsame Fortschritte.“ Mit „wir“ meint er die EU als 28 Staaten-Bund. Für ihn stellt Streit in der EU noch lange keine „Existenzkrise“ da, es sei nur entscheidend wie man auf die Auseinandersetzungen reagiere. Juncker schlage vor, auf Basis der bestehenden Verträge weiter zu verhandeln, Macron fordere eine Neugründung und dann gebe es noch „Youtubesüchtige Euro-Gaukler wie Nigel Farage“, die den Austritt aus der EU befürworten.
„Potenzial zur Weltmacht“
Dabei kann die EU seit sechs Jahren ein stetiges Wirtschaftswachstum vorweisen, die Arbeitslosenquote innerhalb der Union liegt bei nur 6,7 Prozent. Der EU-Generalsekretär sieht sogar das Potenzial zur Weltmacht. „Keine, die herrschen will, aber eine, die internationale Standards setzen kann, etwa beim Klimaschutz.“ Auch die Datenschutzgrundverordnung habe weltweite Standards gesetzt. Außerdem sei die EU laut Selmayr gerade in Zeiten der unberechenbaren Politik Amerikas als Handelspartner besonders attraktiv. Am ersten Februar tritt ein Handelsabkommen mit Japan in Kraft, das ein Drittel des Welthandels abdeckt und allein in Deutschland 200.000 neue Arbeitsplätze schafft. „Trump ist eifersüchtig auf unser Abkommen mit Japan“, sagt Selmayr. Der Generalsekretär der europäischen Kommission sieht darin die erste Einsicht des Präsidenten, dass trotz „America first“ weder Amerika alleine noch die Strategie des „Handelskriegs“ komplett aufgeht: „Zum ersten Mal seit 15 Jahren wurde der Kommissionspräsident der EU ins Weiße Haus eingeladen.“
„Keine Besatzungsmacht“
Doch auch mit Blick auf Großbritannien stellt Selmayr fest, dass die schlimmsten Befürchtungen nicht wahr geworden sind. Erstaunlicherweise habe der Brexit den Staatenbund nicht gesplittet, sondern geeinigt und gestärkt. „Trotzdem ist es das traurigste und schlimmste politische Ereignis, das der EU je passiert ist.“ Der Slogan der Brexit-Befürworter „We take back control“ deute auf Fremdherrschaft hin, von der man sich befreien müsse. „Die EU ist weder eine Diktatur, noch eine Besatzungsmacht“, betont Selmayr, der sonst viele Späße in seine Rede eingebaut hat, mit ernster Stimme. Obwohl selbst EU-skeptische Länder wie Dänemark nach dem Brexit eine höhere Zustimmung zur Union zeigen, fordert Selmayr anders über die EU zu sprechen. „Brüssel kann uns gar nichts verbieten, ohne, dass alle Mitgliedsstaaten zustimmen.“ Das werde in einigen Debatten und Medienberichten jedoch so dargestellt.
Den Europawahlen blickt Selmayr besonders wegen des Brexits mit Spannung entgegen. „Rund 440 Millionen Bürger dürfen zwischen dem 23. und 26. Mai an der Europawahl teilnehmen.“ Wenn Großbritannien bis dahin noch zur EU gehört, können auch dessen Einwohner wählen. Weigere sich das Land daran teilzunehmen und Abgeordnete für das Europäische Parlament zu stellen, könnte eine legale Regierungsbildung in der EU gefährdet sein, äußert Selmayr seine Bedenken. Doch erstmal müsse es eine endgültige Entscheidung in Theresa Mays Regierung geben. „Wir bleiben bei unserem Abkommen und sind weiterhin bereit mit May zu verhandeln“, verspricht Selmayr. „Aber bevor May das nächste Mal einen Deal mit uns aushandelt, sollte sie sich ausreichend Zustimmung im britischen Parlament sichern. So macht man das normalerweise bei Verhandlungen.“
Die Entwicklung der Europäischen Union bleibt also spannend. Im Rahmen der im Mai stattfindenden Europawahlen wird es im nächsten blank-Magazin, welches kommenden April erscheinen wird, ein Interview mit Martin Selmayr geben. Schon jetzt sollte man sich den 26. Mai im Kalender markieren. An diesem Tag werden die deutschen Bürgerinnen und Bürger das europäische Parlament wählen können. Selten war die Legitimation der Europapolitik so entscheidend wie in diesen Tagen.
Foto: Tobias Köhler
Auf dem Foto sind Martin Selmayr und sein ehemaliger Professor Dr. Michael Schweitzer, Wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Europarecht, zu sehen