Seit über einem Jahr beherrscht das Virus unser Leben. Keine Partys, keine Konzerte, keine Treffen in größeren Gruppen. Fast alles, was uns junge Menschen glücklich macht, wurde gestrichen. Viele haben in der Mehr-Zeit ihre Liebe zum Sport und der gesunden Ernährung entdeckt. Fittnessinfluencer wie Pamela Reif oder Caro Daur (#daurpower) erkannten diesen Trend früh genug und trugen mit Essens-Tipps und wöchentlich hochgeladenen Sportvideos dazu bei, dass wir weiter motiviert bleiben. Das viele Menschen mehr Sport treiben und sich gesünder ernähren, ist ja erst einmal eine gute Nachricht, doch was passiert eigentlich, wenn der Sport zur Sucht wird oder gesunde Ernährung zum Zwang? Kann zu gesund ungesund sein? Und kann man überhaupt zu viel Sport machen?
Wir haben uns umgehört und Geschichten von Erfolg und Misserfolg, Freude und Verzweiflung gehört. Drei junge Menschen berichten hier von ihren Problemen mit dem Drang nach zu viel Sport und zu gesunder Ernährung. Die Namen haben wir geändert.
Anna M.
Ich war 15, als ich eine Essstörung entwickelte. Ich dachte, ich mache alles richtig. Ich bin damals umgestiegen von einer Ernährung mit Fleisch auf eine Fleisch-Lose Ernährung. Im Zuge meiner vegetarischen Lebensweise setzte ich mich mehr mit Lebensmitteln auseinander. Ich begann die Süßigkeiten wegzulassen und ersetzte sie durch Obst oder Joghurt. Allgemein fing ich an mich penibel gesund zu ernähren. Zumindest dachte ich, dass es gesund sei. Ich verzichtete auf Zucker und Weizen, auf Gebäck und viele Kohlenhydrate. Zusätzlich fing ich an vermehrt joggen zu gehen. Der Sport und meine übertrieben gesunde und viel zu kalorienarme Ernährung ließen mich schnell und viel an Gewicht verlieren. Mir selber war das alles gar nicht bewusst. Mir fiel die Veränderung zunächst nicht einmal auf. Irgendwann fingen Freunde, Familie und sogar meine LehrerInnen an mich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. „Ist alles in Ordnung?“ fragten sie mich. Ich antwortete immer mit einem klaren und bestimmten „Ja“ irritiert was ihr Problem war. Irgendwann wurden die Fragen konkreter: „Du hast so viel abgenommen. Ist wirklich alles in Ordnung?“. Anstelle, dass mich ihre Sorgen erreichten, machten mich all diese Fragen eher wütend. Ich fühlte mich an den Pranger gestellt, als würde ich etwas falsch machen. Dabei machte ich doch alles richtig, oder etwa nicht? Gesunde Ernährung und Sport – jeder sagt einem doch wie wichtig das ist. Dass meine Ernährung allerdings ZU gesund und ZU wenig für mein Sportverhalten war, war mir nicht klar. Irgendwann kam der Punkt, an dem meine Mutter meinte, dass es so nicht weiter geht. Sie ging mit mir zum Arzt. Zunächst untersuchte mich dieser auf Mangelerscheinungen. Bis auf einen Eisenmangel, der jetzt aber nicht wirklich Schuld an meiner Gewichtsabnahme war, entdeckte er natürlich nichts. Der Arzt empfiehl mir ein Pulver bei der Apotheke zu kaufen, welches man sich zu einem Shake anrührt. Dieser Shake hatte enorm viel Kalorien und sollte mein Gewicht wieder etwas zurück in den normalen Bereich bringen. Aus irgendeinem Grund war das der Moment, an dem es bei mir Click machte. Anscheinend war ich wirklich grenzwertig dünn. Ich fing an fast doppelt so viel zu Essen und schaffte es an Gewicht zuzunehmen.
Es dauerte lange bis ich realisierte, dass ich damals eine Essstörung hatte. Die komplette Schulzeit schaffte ich nicht mir das einzugestehen, aus Scham. Auch noch zwei Jahre später, wenn mich meine Freunde auf die Zeit ansprachen, machte alles in mir zu. Ich lächelte sie immer nur schüchtern an und zuckte mit den Schultern und versuchte so zu signalisieren, dass ich nicht drüber reden möchte. Ich kann mir nicht erklären, warum es so lange dauerte bis offen darüber sprechen kann. Erst heute, viele viele Jahre später, kann ich das.
Marie S.
Im Alter von 14 Jahren entwickelte ich eine Essstörung. Mein Körper hatte angefangen sich zu verändern und ich hatte etwas an Gewicht zugelegt – empfand mich selbst als kleines „Moppelchen“. Ich wollte „schön“ sein und den Idealen entsprechen, begann mit Diäten. Eine Freundin meiner Mutter beschäftigte sich viel mit Ernährung, aber hatte doch auch kein gesundes Verhältnis zu Essen. Zu gesund, zu wenige Kalorien; das fällt mir heute auf. Jedes Wochenende gingen wir mit ihr Essen und ich lernte viel über Ernährung von ihr; schaute mir einiges von ihrem Essverhalten ab. Ich fing an zum Frühstück nur noch Banane mit Erdmandel zu essen und zu Mittag ein kalorienarmes Reisgericht. Jede Packung und jedes Lebensmittel inspizierte ich gründlich nach den Kalorienangaben und fing an zu zählen – ohne, dass ich eigentlich wusste, wie viele Kalorien mein Körper tatsächlich benötigte, um gesund zu funktionieren. Ich verlor schnell an Gewicht und es erfreute mich. Ein großer Erfolg für das kleine 14-jährige Mädchen. Doch es war nicht genug, ich wollte mehr Gewicht in kürzerer Zeit verlieren. Damals trieb ich sowieso schon viel Sport. Hatte mindestens einmal in der Woche Tennistraining, machte Reitsport und bewegte mich grundsätzlich viel. Der Crosstrainer im eigenen Zuhause entwickelte sich dann zusätzlich schnell zur Obsession. Mindestens jeden zweiten Tag powerte ich mich eine Stunde lang aus – immer das Ziel vor Augen, Gewicht zu verlieren. Ich begann meine Nahrung immer mehr durch Shakes zu ersetzen, da diese weniger Kalorien hatten. Von einigen Freundinnen hatte ich gehört, dass sie ihre Mahlzeiten ersetzten. Viele meiner Freundinnen waren in einem Abnehm-Wahn und somit pushten wir uns gegenseitig. Meine Eltern wollten mich zum Essen animieren, wir kochten Zuhause sowieso schon immer recht gesund und achteten auf die Qualität des Essens. Ich setzte mich aber durch, war zu stur. Ich wurde sehr schnell sehr dünn. Bekam viele Komplimente für meine rasche Veränderung; bekam häufig gesagt, was für ein schönes Mädchen ich doch sei. Vor meiner Veränderung kamen mir diese Komplimente nicht so zugeflogen. Die Resonanz von außen bestärkte mich in meinem Vorgehen. Zu dieser Zeit datete ich auch den ersten Jungen. Der „coolste“ Junge der Klasse, der jedoch auch viel Wert auf Oberflächliches und Optik legte. Er begehrte mich und es tat mir gut. Einmal fragte ich ihn, ob er mich auch wollen würde, wäre ich dicker und in seinen Augen nicht mehr so hübsch. Er wies mich daraufhin nur ab und argumentierte, was das für eine schwachsinnige Frage sei und dass er das nicht beantworten möchte. Das erschütterte mich sehr. Wenn ich auf dem Crosstrainer war hing ich mir Schilder an die Wand mit meinem Wunschgewicht, das ich erreichen wollte – als Ansporn weiterzumachen und nicht aufzugeben. An einem durchschnittlichen Tag nahm ich ungefähr 400 bis 600 Kalorien zu mir, da mir die Shakes nicht sonderlich schmeckten, setzte ich auch sie häufig aus. Ich wog mich manchmal mehrmals am Tag, um zu überprüfen, ob ich zu oder abgenommen hatte. Ich dachte viel an Essen, ich hatte große Lust zu essen. Wenn wir unterwegs waren, Fahrradtouren machten mit der Familie und ich mir sicher war ausreichend Kalorien zu verbrennen, dann aß ich. Ich rechnete aber immer im Kopf, ob es sich ausgleichen würde. Einmal machten wir einen Familienausflug mit der Schule. Ich bestellte mir einen Flammkuchen und ein Junge aus meiner Klasse fragte mich, ob er die Hälfte davon abhaben könne. „Du isst das doch sowieso nicht!“, unterstellte er mir. Das traf mich, zu wissen, dass andere von mir denken mein Essverhalten sei nicht normal. Trotzdem dauerte diese Phase bestimmt ein Jahr. Ich hatte sehr gute Freundinnen mit denen ich viel Zeit verbrachte. Auch das Essen nahm eine große Rolle in unserer Freundschaft ein und wir frühstückten und kochten gemeinsam. Irgendwann merkte ich wie viel Positives ich verpasse, dass Essen auch einfach eine Gemeinschaftssache ist. Ich aß wieder mehr und nahm zu, war immer noch schlank und machte viel Sport, aber war nicht mehr hager. Trotzdem belastete es mich zuzunehmen. Es belastet mich heute noch. Ich ernähre mich heute gesund, aber verbiete mir nichts. Ich achte auf eine gute Qualität des Essens und ernähre mich überwiegend vegan, weil es meinem Geist, meinem Körper und meinem Gewissen gut tut. Ich glaube aber dennoch, dass ich nie ein komplett normales Verhältnis zu Essen haben werde. Essen wird immer eine große Rolle in meinem Leben spielen; ist für mich nichts Nebensächliches. Wenn ich mir heute Bilder von früher ansehe erschrecke ich mich wie dünn ich war. Damals kam mir das überhaupt nicht so vor, ich empfand mich selbst in meinen dünnsten Momenten immer als „zu dick“.
Laura W.
Jeden Morgen geht der erste Schritt aus meinem Bett zu meinem Spiegel. Nicht, um mir und meinem Spiegelbild den Schlaf aus den Augen zu reiben, sondern um meinen Körper zu inspizieren. Ich stelle mich zur Seite, ziehe den Bauch ein, betrachte meine Fettverteilung. Warum sieht man keine Muskeln mehr? Habe ich wieder zugenommen? Und warum sehen meine Oberschenkel dicker aus als noch vor ein paar Wochen? Meistens teste ich mit einem kurzen Händedruck, wie weich sich meine Innenschenkel und mein Bauch anfühlen, ob der Fettanteil die festere Muskelmasse überwiegt. Bemerke ich eine schlechte Veränderung, das heißt, sieht mein Körper in meinen Augen nach mehr aus, als er sein sollte, bedeutet das für mich meistens eine Art Kontrollverlust. Heute habe ich dieses Gefühl größtenteils im Griff, doch als ich etwa 16 war, versuchte ich, den Kontrollverlust mit einer veganen Ernährung auszugleichen. Mein Beweggrund war – leider – nicht das Tierwohl, sondern der Gedanke, durch diese Form der Ernährung zwangsweise so gesund zu essen, dass es mir unmöglich war zuzunehmen. Gegenüber meinen Freunden verkaufte ich es als ein Selbstexperiment. Dass ich nur mal probieren wolle, wie lange ich so eine Ernährung durchhalten könne, ob es wirklich so schwierig sei. Da ich noch recht jung war und mein Stoffwechsel entsprechend schnell, verlor ich in der Tat zügig an Gewicht. Für mich war das befreiend. Ich musste mir keine Gedanken mehr darüber machen, was ich essen durfte, musste keine Kalorien zählen oder exzessiv Sport machen, dennoch nahm ich ab. Meine Ernährung war nun von Natur aus so restriktiv, so kalorienarm, dass ich mir keine Sorgen mehr über eine Gewichtszunahme machen musste. Zwei oder drei Orangen aß ich zum Frühstück, mein Abendessen bestand aus einer Süßkartoffel mit rohem Babyspinat als Beilage. Hatte ich keine Zeit zum Kochen, genügten mir drei Bananen als ein vollständiger Ersatz für ein Mittagessen. Besorgte Kommentare meiner Mitschüler*innen über meine zu dünnen Arme fasste ich als Kompliment auf, winkte ihre Angst ab. Teilweise wurde ich sogar wütend. Schließlich gab es andere, viel dünnere Mädchen in meiner Stufe, und dennoch wurden sie nicht darauf angesprochen. Mein Gewicht wog ich täglich, jedes weitere Gramm weniger zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Nahm ich zu, sagte ich mir, dass es nicht so schlimm sei, schließlich wog ich bei weitem nicht so viel wie vor meiner Ernährungsumstellung. Dieses Mantra erfüllte jedoch nur seinen Zweck, wenn ich die Woche darauf wieder weniger wog. Noch immer überprüfte ich meinen Körper täglich auf Veränderungen, sah – nun weitaus zufriedener – in jedes Schaufenster, das mein Spiegelbild zeigte, kniff mir glücklich in meine nun kaum mehr vorhandene Bauchfalte. Erst Jahre später stieß ich auf den Begriff, der mein Verhalten beschrieb: Body Checking. Dabei überprüft man in obsessiver Weise den eigenen Körper, sei es durch Anfassen, festes Greifen, Betrachten (im Spiegel) oder durch den konstanten Vergleich mit anderen. Oft ist dieses Verhalten auch Teil einer Ess- oder einer Körperbildstörung. Die vegane Ernährung hatte ich nach mehreren Monaten auf Eis gelegt, da ich auf einen neuen Zug aufsprang: Einen möglichst hohen Proteinanteil zu mir zu nehmen, das war durch eine Ernährung mit tierischen Produkten natürlich leichter. Meine zwanghaften Rituale sind mir bis heute als Relikte aus meiner Schulzeit erhalten geblieben, auch wenn meine Ernährung inzwischen, so meine ich, recht ausgeglichen ist. Die Besessenheit mit meinem eigenen Körper ist traurigerweise dennoch eine Dauerbaustelle, die wohl nie komplett fertiggestellt sein wird.
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