1976 gibt David Bowie ein Konzert in der Berliner Deutschlandhalle. Im Publikum steht die dreizehnjährige Christiane F. und nimmt zum ersten Mal in ihrem Leben Heroin. Dreizehn Jahre alt, ein Welpe also noch. Christiane F. hat noch nicht einmal ihre Tage, als sie den harten Drogen verfällt, die bekommt sie zum ersten Mal, als sie bei einem Freier ist. „Welpen“ heißt auch die erste Folge der achtteiligen Amazon Prime Serie, die die tragische Geschichte der Christiane F. neu erzählt.
Das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ schlug ein wie eine Bombe, denn es traf einen Nerv im Berlin der 1970er Jahre – das Berlin, das damals Hauptstadt der Fixer genannt wurde. Besonders Westberlin galt Mitte der 70er Jahre als Drogenhochburg. Genau hier lebt Christiane F., die Horst Rieck und Kai Hermann ihre Lebensgeschichte erzählt. Aus den Tonbandaufnahmen entsteht das biografische Buch, das der Stern 1978 publiziert. Christiane gibt den namenlosen Fallstudien der Drogenstatistik ein Gesicht und entfacht damals eine nie dagewesene Debatte um Drogensucht, Kinderprostitution und Abhängigkeit.
Schon einmal wurde Christiane F.s Schicksal verfilmt. Regisseur Uli Edel erzählte die Niedergangsgeschichte der heroinsüchtigen Heranwachsenden dokumentarisch kühl. In Nahaufnahme sieht man, wie sich eine Dreizehnjährige auf dem Bahnhofsklo Heroin spritzt, wie sie sich in schweißgetränkten Klamotten auf der Matratze krümmt, sich minutenlang die Seele aus dem Leib kotzt, emotionslos ihren ersten Freier bedient. Die Bilder schockierten die prüde Bundesrepublik und offenbarten eine andere Realität voll menschlicher Abgründe, die am heilen Selbstbild der Nation rüttelten. West-Berlin zeigte sich als kinderfressendes Heroinloch, als ein Deutschland jenseits der weißen Fassade. Die Bilder vom Bahnhof Zoo als Sinnbild des gesellschaftlichen Verfalls waren so verstörend, dass sie an vielen deutschen Schulen zum abschreckenden Pflichtprogramm wurden. Das Drogenschicksal der Christiane F. wurde von einer Generation Jugendlicher tagelang auf den Schulhöfen diskutiert, man lernte Begriffe wie „H“ oder „Äitsch“, „Drücken“ und „Turkey“. Ganz verstehen konnte man den Absturz der Christiane F. dennoch nicht, die Magie des Heroins blieb unverständlich, das High blieb aus, das Elend war dafür umso greifbarer. Wie ist es, „H“ zu nehmen? Wie fühlt sich das High an, nach dem Christiane und ihre Fixerfreunde seit dem ersten Schuss lechzen? Der Film von 1981 beantwortet keine dieser Fragen.
H? Es ist, als ob du mitten im Winter draußen in der Kälte stehst und plötzlich kommt jemand mit ner warmen Decke und hüllt dich ein. Und dann merkst du einfach, alles wird gut und sicher. (Axel)
Das 2021 Serien-Remake der Kultgeschichte lässt uns geschockt zurück, nicht nur wegen der verstörenden Bilder, dem Ekel und der Tragik, sondern auch zu einem gewissen Teil, weil wir die Faszination der Droge Heroin spüren können. Wir fühlen förmlich den Sog. Vielleicht durchdringen mich die Technosounds noch mehr durch den Corona bedingten Partyentzug. Aber der Film trägt eine Intensität, die einem in die Knochen fährt oder eben wie Heroin direkt in die Blutbahn. Produzent Oliver Berben und Regisseur Philipp Kadelbach ergänzen die Geschichte der Christiane F. mit Fiktion und machen sie zeitlos, irgendwo verankert zwischen dem Jetzt und den 1970er Jahren. Anders als in Uli Edels Film verstehen wir, warum die Heranwachsenden dem Heroin verfallen und warum sie daran zu Grunde gehen. Der Kern der Geschichte bleibt unangetastet. Es ist die traurige Erzählung von Jugendlichen, die soviel Schmerz in sich tragen, dass sie zum Heroin greifen.
Eine kleine Wohnung, 11. Stock, Berliner Platte. Das Geld ist knapp, Christianes Vater sprüht vor utopischen Ideen und bleibt doch ein Versager. Die Familie zerbricht, das Geschwisterchen, das sich Christiane so sehr gewünscht hat, wird es nicht geben. Es ist ein Umfeld, das dennoch weit entfernt von Abhängigkeit und Drogen steht. In einem schlimmeren Verhältnis wächst Stella auf. Ihre Mutter ist sich in ihrer Kneipe selbst die beste Kundin, bestellt schon einen Tag nach ihrem Entzug wieder Sekt. Die taffe Stella, gespielt von Lena Urzendowsky, kümmert sich daher aufopferungsvoll um ihre kleinen Geschwister, schmeißt Pillen, um das Ganze besser zu ertragen und wird von einem Gast in der Kneipe ihrer Mutter vergewaltigt. Babsi, ein Mädchen mit kurzen, elfenbeinfarbenen Haaren, ist gefangen in dem dazugehörigen Elfenbeinturm, isoliert und allzu behütet. Materiell hat sie alles, doch der Reichtum kann die spürbare Kälte ihres familiären Umfelds nicht wettmachen, der Vater verstorben, die Mutter nie zuhause. Benno, der als einziger wie ein zu groß geratenes Kind wirkt, prostituiert sich für die OP seines geliebten Hundes in einem schäbigen Motel. Als der Tierarzt ihm erklärt, der Hund könne nicht mehr gerettet werden, investiert er das Geld in Drogen. An Weihnachten, wie sollte es anders sein, erreicht das Elend seinen Höhepunkt. Von da an ist klar, dass nichts wieder ganz heil werden kann. Mit einer fatalen Naivität stolpern die Jugendlichen anfangs über harte Drogen. „Ich will Heroin probieren“ – so platzt Christiane in den Laden, in dem Stella arbeitet.
Das Sound, dessen rote Neonschrift die Jugendlichen wie Motten anzieht, wird zum Ort der Versuchung.
Um zu vergessen, kommen sie alle ins Sound. Schnelligkeit, Intensität, Bass. Die Partyszenen zeigen vollkommene Enthemmung, die Befreiung ist greifbar und packt den Zuschauer mit einer hypnotischen Intensität. Die Euphorie der Nächte im Sound macht alles erträglicher und so beginnt langsam die Abwärtsspirale. Die Kids schalten sich aus, weil sie ihr Leben nicht ertragen können und bald auch nicht mehr sich selbst. Philip Kadelbach gibt dem Hochgefühl, dem High-Sein eine visuelle Dimension. Die Serie ist voll von schnellen Schnitten, sich überlagernden Realitäten und wunderschönen, überwältigenden Bildern, die den psychoaktiven Rausch bildlich werden lassen.
Auf einem verlassenen Kettenkarussell, nachts, inmitten deiner Freunde, durch die tiefschwarze Nacht sausen, den eiskalten Wind im Gesicht – fühlt sich so ein Heroinrausch an? Freudestrahlend und völlig selig fliegen sie wie die Kinder, die sie ja eigentlich auch sind, durch die Nacht, doch aus Überschwang wird bald Waghalsigkeit. Auf dem sich drehenden Karussell stehen sie auf und lassen los – ein Sinnbild dafür, wie ihre Geschichte weitergehen soll. Der Zuschauer fühlt die Rauschzustände fast körperlich, das warme Gefühl, das Axel wie ein Schuss trifft und mit einem Ausdruck tiefster Zufriedenheit, die Nadel noch im Arm, ins Sofa sinken lässt.
In diesen Momenten schrammt die Serie knapp an der Drogenverherrlichung vorbei. Der Drogenkonsum ist zu glamourös, zu chic. Mit Absicht, so Annette Hess, Autorin der Amazon Prime Serie. „Ich möchte, dass man nach dem Sehen der Serie sagt, ich möchte drogenabhängig werden und gleichzeitig auch auf keinen Fall“. Wo uns der Film von 1981 verständnislos zurücklässt, gibt uns die Serie eine Antwort. Die Serie ist ambivalent, es bleibt offen, ob sie Drogen romantisiert oder verteufelt. Vielleicht wollte das 2021 Remake eben nicht wie der Film von 1981 sein, kein dogmatisches Erziehungsmaterial. Für den ein oder anderen geht die Serie damit zu weit. Man kann der Serie sicher einiges vorhalten (was sollen diese Outfits?, die Darsteller sind natürlich viel zu alt und ob man Bowie mit Technobeats mischen muss, bleibt fragwürdig) aber Drogenkonsum beschönigt sie keinesfalls. Sie zeigt was Drogen sind: Himmel und Hölle zugleich. Die Drogen lassen die Kinder vom Bahnhof Zoo wunderschöne Illusionen erleben, die sie in der stetig hässlicher werdenden Realität immer dringender benötigen. Die Sucht wird nachvollziehbar, aber keinesfalls nachahmenswert.
Gut, dann hören wir jetzt alle auf. So wie Christiane und Benno. Wir schließen jetzt nen Voll-Clean-Pakt. Noch einen letzten Druck und dann hören wir auf. (Axel)
Ganz plötzlich bricht das Glamouröse weg und dahinter kommt eine Hilflosigkeit, eine Selbstverleugnung und rasende Abhängigkeit zum Vorschein, die ebenso körperlich spürbar ist, wie der vorhergehende Rausch. Die Serie offenbart tabulos den Abgrund des Drogenkonsums: die Entzugserscheinungen auf Cold Turkey, das Anschaffen auf dem Kinderstrich, die ersten Drogentoten im Freundeskreis. Die Charaktere, brilliant besetzt und noch besser gespielt, verlieren sich, bis alles komplett aus dem Ruder läuft. Besonders die schauspielerische Leistung Jana McKinnons als Christiane und Lena Urzendowskys als taffe Stella macht den Niedergang so spürbar. Stella wohnt mittlerweile bei Günther, einem ekelhaften und erbärmlichen Pädophilen, der sie liebt und dennoch sexuell ausbeutet. Wenn sie ihn befriedigt, bekommt sie Heroin. Christiane ist komplett abhängig von Benno, aber mehr noch vom Heroin. Nach einem gemeinsamen Entzug folgt der Rückfall. Die expliziten Vergewaltigungs- und Prostitutionsszenen sind schwer zu ertragen. Die Verwahrlosung der Jugendlichen tut weh.
1978 registrierten die westdeutschen Behörden noch 430 Drogentote, 2019 waren es für ganz Deutschland 1398. Die Thematik hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Jedoch beschleicht mich das Gefühl, dass wir wieder in die Zeit der gesichtslosen Fallstatistiken zurückgekehrt sind. Die, die da Drogen nehmen, das sind die anderen. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zeigt, welch unterschiedliche Schicksale in die Drogensucht führen können, die emotionale Tiefe der Figuren leistet einen wichtigen Beitrag für die gesellschaftliche Diskussion: es kann jeden treffen. Annette Hess war es daher so wichtig, dass die Serie keiner bestimmten Zeit zugeordnet werden kann. „Es ist eine universelle Geschichte über junge Menschen, die sich unsterblich fühlen, die Sehnsüchte haben, aber auch Traumata, aus dysfunktionalen Familien kommen, ihre seelischen Schmerzen betäuben müssen, was absolut zeitlos ist. Diese Orientierungslosigkeit – „No Future“ hat man damals ja auch gesagt –, gilt heute mehr denn je, auch für 30-Jährige. Denn dieses Klassische „Lehre – Ausbildung – Job – Rente“ gibt es nicht mehr. Heute studiert jeder – mit offenem Ergebnis. Erfolg und Identität werden aus der virtuellen Welt generiert. Das erzeugt Druck und Leere gleichzeitig. Optimierung und Betäubung sind gefragt wie nie. Die Namen der Drogen ändern sich, die Wirkungen ändern sich, aber dass konsumiert wird, ändert sich nicht – im Gegenteil.“
Die Geschichte der Christiane F. lebt also wieder auf, emotionaler und ambivalenter als der Film von 1981 und damit vielleicht ein Stückchen näher dran an der Realität.
Die Serie läuft seit dem 19. Februar auf Amazon Prime.
Ihr könnt euch Christiane F.s Geschichte auch als Spotify Hörbuch basierend auf den Tonbandaufnahmen von 1978 anhören:
Quellen: muessen-wir-elend-und-dreck-zeigen-annette-hess-ueber-ihre-serie-wir-kinder-vom-bahnhof-zoo-9747