Einmal pro Jahr treffen sich im Hamburger Michel Spitzenvertreter aus Politik und Wirtschaft. Die Zeit Verlagsgruppe lädt zum Zeit Wirtschaftsforum. Vor der exklusiven, ja imposanten Kulisse des hanseatischen Wahrzeichens werden aktuelle Themen aus Politik und Wirtschaft kontrovers diskutiert. 950 Euro. Das kostet eine reguläre Eintrittskarte. Auf Einladung von Zeit Online darf ich dieses Jahr teilnehmen. Kostenlos. Dies sind die subjektiven Eindrücke eines unerfahrenen und idealistischen Studenten aus einer Arbeiterfamilie, der sich zum ersten Mal in solch elitären Kreisen bewegt:
Nach einer kurzen Nacht mit zu viel Wein und zu wenig Schlaf nehme ich Platz auf den sich langsam füllenden Kirchenbänken der Hauptkirche St. Michaelis, so der offizielle Name des „Michel“, als ich gerade noch rechtzeitig das üppige Begrüßungsbuffet mit großer Kaffeemaschine auf der Empore entdecke. Alle Bedenken verfliegen. Der Tag fängt gut an.
Verteidigungsministerin Von der Leyen: Ein bisschen Werbung für das „Unternehmen“ Bundeswehr
Es geht los. Olaf Scholz, Oberbürgermeister der Stadt Hamburg sichert sich als erster Redner das Wohlwollen sämtlicher Gäste mit geradezu beschwingenden Lobeshymnen auf das deutsche Ausbildungssystem und fetzigen Zitaten von Frank Sinatra und Thomas Friedman. Das kommt gut an. Doch besonders eins fehlt dem so beliebten und allgemein respektierten SPD-Politiker an diesem Morgen: Charisma und Begeisterungsfähigkeit.
Ganz anders Ursula von der Leyen, Bundesverteidigungsministerin: Rhetorisch einwandfrei singt sie sich mit sanften Tönen und einer gesunden Portion Selbstironie mitten in die Herzen vieler Zuhörer. Bei einer hauseigenen Airline mit über 600 Flugzeugen und Hubschraubern könne es doch schon mal passieren, dass das ein oder andere nicht abhebt. Sie spricht von der Notwendigkeit permanenter Modernisierung, macht hier und da ein bisschen Werbung für ihr „Unternehmen“ Bundeswehr und zeichnet immer wieder geschickt eine deutliche Abgrenzungslinie zu den Ländern Nordafrikas und Russland. Ein bisschen zu viel „Wir gegen die“.
Eingeleitet von Frau Von der Leyen beginnt daraufhin ein Schaulaufen der guten Bilanzen und der ausweichenden Antworten. Diese Kunst findet ihren Meister schließlich in Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG. Geduldig und mit einem charmant bodenständigen bayrischen Akzent gibt er viele vage Antworten auf viele konkrete Fragen bezüglich eines gewissen Skandals. Da war ja was.
Der Beweis für Deutschlands Innovationskultur: Bei der Deutschen Bank gibt es keine Krawattenpflicht mehr
Die ersten Diskussionen stehen unter der Leitfrage, wie man der deutschen Innovationskultur endlich ein Update verpassen kann. Natürlich. Wie jedes Jahr. Das ist en Mode und trifft den Geist der Zeit. Christian Sewing, Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank AG gibt schließlich ein handfestes Beispiel der sich rasant verändernden Arbeitswelt in einer global agierenden Bank: Hierarchien verschwinden und man probiert sich zunehmend aus – so sei es beim Vorstandstreffen schon gang und gäbe, keine Krawatte mehr zu tragen. Manchmal zumindest. Es tut sich etwas in Deutschland.
Ich brauche eine Pause. Nach zwei Gläsern Rotwein und drei Ciabatta mit Graved Lachs und Dijon-Senf-Honigsauce bin ich bereit mich weiter berieseln zu lassen und lehne mich entspannt zurück. Und dann wird es interessant.
Eine Gebäudereinigerin sorgt für betretenes Schweigen im Publikum
Denn mit Susanne Neumann betritt endlich jemand die Bühne, die eine leuchtende Flamme der Abwechslung in die sonst so homogene Dunkelheit des Michels bringt. Ein Auftritt auf dem SPD Gerechtigkeitsgipfel im Jahr 2016 machte die Gebäudereinigerin und engagierte Gewerkschaftlerin über Nacht zum Youtube-Star und zur Galionsfigur im Kampf gegen Altersarmut. Es folgten zahlreiche Auftritte in verschiedenen Fernsehformaten. Trotz wiederkehrender Krebserkrankung und in Aussicht einer befristeten Rente in Höhe von 814 Euro nach 36 Jahren Berufstätigkeit kämpft sie entschlossen für ihre Version einer gerechteren Gesellschaft. „Eine die redet, wie Island Fußball spielt.“ Gott sei Dank. Wie gut tut es, jemanden wie sie hier sprechen zu hören.
Im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo, dem alleinigen Chefredakteur der Zeit, malt sie ihr ganz persönliches Bild vom angeblichen Jobwunder in Deutschland. Und bringt ein Stück Menschlichkeit und Authentizität mit. Offen und ehrlich, provokant und direkt spricht sie über befristete Menschen in befristeten Arbeitsverhältnissen, ihr schwieriges Verhältnis zu SPD-Chef Sigmar Gabriel und über ein Land, für das sie sich immer wieder in Grund und Boden schämt: Sie, die von Altersarmut bedrohte Geringverdienerin aus dem Ruhrgebiet, ist die einzige unter den sonst so gut betuchten Gästen, die den aufmerksamen Reinigungskräften beim Wirtschaftsforum Trinkgeld gibt. „Wann haben Politik und Gesellschaft den Respekt vor uns verloren?“ fragt sie mit vor Aufregung bebender Stimme. Verlegenes Schweigen. Endlich mal menschliche Emotionen. Nichts Aufgesetztes.
„Es war ein Fehler, dass Autos vor dem Computer erfunden wurden“
Im Anschluss wird wieder über Digitalisierung in Deutschland geredet. Mit Florian Leibert, dem Gründer von Mesosphere Inc., eines der aktuell vielversprechendsten Start-Ups aus dem Silicon Valley. Und Philipp Rösler. Wirklich. Den gibt es tatsächlich noch. Als Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums sammelt er inzwischen unermüdlich Flugmeilen und legt eine früher nicht gekannte Leichtigkeit an den Tag.
Mein Lieblingszitat des Abends: „Es war ein Fehler, dass Autos vor dem Computer erfunden wurden“. Florian Leiberts Meinung nach soll kein Mensch seine Zeit mit Autofahren verschwenden. Irgendwie sympathisch. Gerade in einer Zeit, in der die „Generation Rushhour“ immer weniger schläft, immer schneller durch Innenstädte läuft, immer mehr arbeitet und immer weniger lebt.
Ein interessanter Denkanstoß, der immer wieder angerissen wird, ist die Zusammenarbeit von deutschem Mittelstand und jungen Start-Ups. Nur so könne man vorhandenes Potenzial optimal nutzen und langfristig auch international erfolgreich werden. Doch wie den Nachwuchs optimal ausbilden und auf die Digitale Welt vorbereiten? „The greatest minds of our generation are trying to figure out where you are going to click next.” Was sollen Kinder und Jugendliche in so einer Zeit also überhaupt noch lernen? Vor allem eines, so ist man sich einig: wie man schnell und effizient lernt.
Digitales Bewusstsein? Fehlanzeige
Eine viel dringendere Frage scheint mir zu sein, wie man den durchschnittlichen, vollkaskoversicherten, hier anwesenden Unternehmer auf die digitale Welt vorbereiten soll. Denn wie gering das Bewusstsein des digitalen Wandels ist, zeigt, dass von der im Auditorium sitzenden Mittelstandselite unseres Landes auf Nachfrage tatsächlich nur eine Person glaubt, ihr Job könne möglicherweise durch Künstliche Intelligenz ersetzt werden. Und diese Menschen gestalten unsere Zukunft maßgeblich mit. Nach einem flehenden Blick Richtung einer mit Blattgold überzogener Jesusskulptur mache ich mich auf den Weg zur Theke.
Eine so ausführliche und ergiebige Debatte über Innovation scheint den meisten Gästen dann auch zu viel zu sein. Als es anschließend um die Gleichstellung von Männern und Frauen in Politik und Wirtschaft geht, wird es auffallend leer auf den Bänken des Michels. Ein wichtiges Thema mit einem angenehm offenen und konstruktiven Diskurs über bisher Erreichtes und noch ausstehende Zukunftsfragen. Laut Studie werden bei aktueller Geschwindigkeit des schleichenden Fortschritts Männer und Frauen erst in 170 Jahren vollständig gleichgestellt sein. Irgendwie bezeichnend, dass die Mehrheit der noch anwesenden männlichen Teilnehmer gedankenverloren aufs Handy starrt. So viel mentale Abwesenheit für so viel Geld. Der Rest hat sich wahrscheinlich schon auf den Weg gemacht, um pünktlich zu Hause zu sein. Wenn das Abendessen auf den Tisch kommt. Zu viel Veränderung auf einmal macht dem Deutschen Angst.
Irgendwann lassen die dämmrig leuchtenden Kerzen den Michel in schon fast weihnachtlich einladender Atmosphäre erscheinen. Draußen ist es schneidend kalt. Etwas träge und angenehm beschwipst gehen die meisten wohl mit einem wohligen Gefühl nach Hause. Fazit meiner Visite: Sehen und gesehen werden. Darum geht es hier. Denn trotz vieler interessanter und kontroverser Diskussionen fehlt mir etwas – konkrete Ergebnisse, neue Impulse und kreative, innovative Denkanstöße zum Mitnehmen. Doch wer bin ich, mir ein solches Urteil anzumaßen. Ich begebe mich an die Bar. Der wirklich zielorientierte Diskurs findet dort statt.